Und fünf davon teilen wir mit niemandem, sagt der Columbia-Professor Michael Slepian. Im Interview erklärt er, unter welchen Geheimnissen wir besonders leiden, wann wir sie verraten sollten – und welche Enthüllung ihm seine eigene Mutter jahrelang verschwiegen hat.
Herr Slepian, wie erforscht man etwas, das die Menschen lieber für sich behalten?
Michael Slepian: Wenn sie an den Studien von meinem Team und mir teilnehmen, müssen die Menschen nicht automatisch ihre Geheimnisse mit uns teilen. Für viele Versuche reicht es zum Beispiel, wenn sie intensiv an ein für sie wichtiges Geheimnis denken. Um herauszufinden, welche Art von Geheimnissen die Menschen hegen, haben wir eine Liste mit 38 Kategorien von Geheimnissen erstellt. Diese reichen von Diebstahl über eine Abtreibung bis zu sexueller Untreue in der Beziehung. Hier können Menschen anonym angeben, welche dieser Erfahrungen sie gemacht haben und ob sie jemand anderem davon erzählt haben. Ich habe im Laufe meiner Forschung mehr als 50.000 Menschen befragt. Im Durchschnitt hat jeder Mensch 13 Geheimnisse. Fünf davon teilen wir mit niemandem. Die anderen acht offenbaren wir nur wenigen ausgewählten Personen.

In dieser Liste sind auch positive Geheimnisse wie ein geplanter Heiratsantrag oder eine Geburtstagsüberraschung. Warum haben Geheimnisse trotzdem einen eher schlechten Ruf?
Weil wir sie mit Täuschung und Lügen assoziieren. Beides ist negativ konnotiert. Dabei muss man nicht zwangsläufig lügen oder täuschen, um ein Geheimnis zu haben. Zum Beispiel erzählte mir jemand, dass er gerne meditiert, aber niemandem davon erzählt. Es ist ein Hobby, das er für sich gefunden hat. Weil ihn niemand danach fragt, muss er auch niemanden anlügen. Trotzdem ist es ein Geheimnis.
Wann werden Geheimnisse zur Last?
Es gibt drei Ebenen, die Geheimnisse belastend machen können: Wie unmoralisch ist die zugrundeliegende Handlung? Teile ich es mit niemandem oder kann ich mich jemandem anvertrauen? Und verstehe ich, warum ich dieses Geheimnis habe? Unmoralische Geheimnisse erzeugen Scham. Geheimnisse, die wir niemandem anvertrauen, führen zu Isolation. Und wenn ich verstehe, warum ich ein Geheimnis habe – zum Beispiel weil ich damit jemanden schütze oder weil ich keine Lust auf Witze über Mediation habe –, dann macht es das leichter, als wenn ich diesen Grund nicht benennen kann. Zum Glück erfüllt nur ein sehr kleiner Teil unserer Geheimnisse alle drei dieser Negativkriterien.
In einer Ihrer Studien haben Sie gezeigt, dass die innerliche Belastung durch große Geheimnisse nicht nur ein Gefühl ist, sondern ganz real existiert. Wie haben Sie das gemacht?
Wenn wir über Geheimnisse sprechen, benutzen wir oft dasselbe Vokabular wie für physische Lasten. Jemand »trägt ein Geheimnis mit sich herum«, oder ein Geheimnis »belastet jemanden«. Diese Metaphern treffen tatsächlich zu. Baten wir Menschen, intensiv an ihr bedeutsamstes Geheimnis zu denken, schätzten sie danach Berge, die wir ihnen zeigten, als steiler ein als eine Kontrollgruppe. Das tun Probanden, die einen schweren Rucksack tragen oder physisch erschöpft sind, auch. Ein großes Geheimnis kann also tatsächlich so wirken wie eine physikalisch schwere Last.

Ihre Forschung zum Thema Geheimnisse animierte Ihre Mutter, Ihnen selbst ein lange gehütetes Geheimnis zu offenbaren. Wie kam es dazu?
Nachdem meine erste Studie veröffentlicht worden war, suchte meine Mutter das Gespräch mit mir und meinem Bruder. Sie gestand uns, dass unser Vater nicht unser leiblicher Vater ist. Wir sind das Ergebnis von Samenspenden. Ich weiß nicht, ob und wann sie uns das offenbart hätte, wenn ich mich mit einem anderen psychologischen Feld befasst hätte. Aber sie sagt, als ich ihr von meiner Studie erzählte, habe das ihr eigenes großes Geheimnis noch mal stärker ins Bewusstsein gerückt. Sie fand, es sei an der Zeit, es mit uns zu teilen.
In Ihrem Buch »The Secret Life of Secrets« beschreiben Sie einige drastische Fälle. Eine Mutter, die ihr Kind erstickt, aber alle glauben, dass es ein Unfall war. Oder zwei Anwälte, die wissen, dass jemand unschuldig im Gefängnis sitzt, aber den wahren Täter nicht offenbaren dürfen, weil er ihr Mandant ist. Wie sehr beschäftigt solche Menschen ihr Geheimnis?
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Interview: Christoph Koch
Foto: CC-SA-4.0 / saeed karimi (Unsplash)