Lessons learned: Was Ben Kingsley verstanden hat

Written by on 03/12/2014 in Wollt grad sagen with 0 Comments

Koordination ist alles

Ich drehe gerade vier Filme gleichzeitig. Nicht, weil ich ein Workaholic bin, sondern weil sie mir alle sehr interessant erschienen und ich keinen davon auslassen wollte. Also nahmen die Regisseure und Produzenten Kontakt miteinander auf und stellten einen Zeitplan auf, der es mir nun erlaubt, zwischen den verschiedenen Projekten hin und her zu springen. Und die Jobs führen mich um die ganze Welt, von den USA über Köln bis nach Marokko und wieder zurück in die USA.

Es kommt auf die Perspektive an

Unbedingt drehen wollte ich „Der Medicus“. Es ist ein wundervolles und spannendes Projekt, das in einer Zeit spielt, die wir oft das „finstere Mittelalter“ nennen. Dabei kam es genau in dieser Ära zu einer unglaublichen Explosion an Wissen – das meiste davon eben nur nicht in unseren Gefilden, sondern im Fernen Osten.

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Es muss immer leicht aussehen

Die Leute da draußen wollen nichts von meinem vollgepackten Terminkalender hören, oder wie ich darüber jammere, über Wochen hinweg nur einen einzigen Tag freizuhaben. Sie wollen einfach Filme sehen, die tolle Geschichten erzählen. Für die Zuschauer müssen wir dafür sorgen, dass alles einfach und mühelos aussieht.

Auch wenn es nicht immer leicht ist

Ich denke aber auch an die unzähligen jungen Schauspieler, die dieses Interview lesen und die sich abmühen, in meiner Branche Fuß zu fassen. Denen gegenüber muss ich ehrlich sein und ihnen sagen, wie anstrengend dieser Job sein kann. Das ist das Paradoxe: Es ist ein harter Job, aber wir müssen es so aussehen lassen, als sei er das nicht.

Eine Idee auf ihren Kern reduzieren

Bei jeder Rolle, die ich in meinem Leben gespielt habe, suchte ich immer nach dem einen Satz oder dem einen Bild, um sie zusammenzufassen. Damit ich mir gewissermaßen etwas in die Tasche stecken kann, was ich bei Bedarf rausholen kann. Zack, da ist es! Als ich „Schindlers Liste“ drehte, hatte ich ein Foto von Anne Frank in der Tasche. Manchmal zog ich es raus und dachte mir: „Ich mache das alles hier für dich.“

Wer missbraucht wurde, missbraucht später auch andere

Diese Erkenntnis war mein Schlüssel, um Don Logan spielen zu können, den psychopathischen Gangster in „Sexy Beast“: Als ich das Drehbuch las, merkte ich sofort, dass es sich bei diesem Charakter um jemanden handelt, der als Kind missbraucht worden ist und niemals Heilung erfahren hat. Das ist der Grund, warum er seiner Umwelt so brutal und unnachgiebig entgegentritt. Mit dieser Seite von ihm konnte ich mich absolut identifizieren. Natürlich bemerkte ich auch Unterschiede zwischen uns beiden – aber ich stellte fest, dass er nicht von einem völlig anderen Planeten stammte. Der Satz, den ich mir also für Don Logan in meine metaphorische Tasche steckte, war: „Tu dieser Person noch ein einziges Mal etwas an, und sie wird dich zerstören.“

Nicht jedes Elternhaus ist voller Liebe

Meine eigene Kindheit war sehr seltsam, und ich denke nicht gern daran zurück. Ich stamme aus einer wohlhabenden Mittelschichtfamilie und wuchs in der Nähe von Manchester auf. Meine Mutter war Schauspielerin und Model, mein Vater Arzt. Materiell mangelte es uns also nie an etwas. Aber wir Kinder wurden emotional völlig vernachlässigt. Man sollte uns nicht sehen, nicht hören. Ich fühlte mich wahnsinnig einsam und isoliert. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern mich je in den Arm genommen hätten. Zum Glück fand ich in der Schule schnell gute Freunde. Aber mein Leben zu Hause war schlimm.

Leere kann ein Antrieb sein

Mein Vater war kein Vorbild für mich. Ganz und gar nicht. Er zeigte mir nie, was es bedeutet, ein Mann zu sein. Aber aus diesem Vakuum heraus konnte ich in meinen Rollen eine Art archetypische Vaterfigur erschaffen, die ich im wahren Leben nie hatte. Ob es Gandhi war, Simon Wiesenthal oder meine aktuelle Rolle in „Der Medicus“ – ich spiele erstaunlich oft Patriarchen, starke Vaterfiguren. Leider starb mein Vater sehr früh und konnte mich nie in all diesen Rollen sehen, zu denen er mich – wenn auch auf eine negative Art – inspiriert hat.

Hohe Ziele stecken

Wenn ich meine Rollen auswähle, dann suche ich nach großen, bedeutenden Männern. Viele der Männer, die ich spiele, sind deutlich intelligenter als ich. Andere sind weitaus geduldiger, andere viel brutaler. Aber genau das ist die Herausforderung. Wie ein Berg, der sich vor einem erhebt und von dem man am Anfang denkt, dass man ihn nie erklimmen wird. Bis man es dann versucht.

Beweglich bleiben

Meine Tochter ist Keramikerin und arbeitet häufig mit Ton. Es ist ein kleines Wunder, wenn man so einen Klumpen Ton auf die Drehscheibe wirft, und plötzlich wird daraus eine wunderschöne Vase. Man braucht dafür große Fingerfertigkeit, und es verlangt einem auf wunderbare Art Konzentration ab. Aber ebenso wichtig ist frischer, noch feuchter Ton. Eben darum arbeite ich auch so gern mit jungen Regisseuren, manchmal mit welchen, die ihren allerersten Film drehen. So wie Jonathan Glazer bei „Sexy Beast“. Diese Neulinge haben frische Ideen und halten mich jung. Damit ich nicht eines Tages wie bröckeliger, unflexibler Ton werde.

Immer neugierig sein

Ein toller Regisseur wie Martin Scorsese, mit dem ich bei „Shutter Island“ zusammengearbeitet habe, ist nicht deshalb so gut, weil er alles weiß – obwohl er natürlich alles weiß! Er ist so sensationell gut, weil er auf dem Set herumwandert, sich dabei an die Unterlippe tippt und intensiv nachgrübelt: „Wie könnten wir das nur anstellen?“ Haargenau wie ein Newcomer, der gerade seinen ersten Film dreht Unendlich viel Erfahrung und Routine besitzen, aber trotzdem nicht festgefahren sein. Alles gesehen, aber trotzdem keine Angst vor Überraschungen haben – das ist der Schlüssel.

Nicht zu früh jubilieren

Wenn man denkt „Oh, das wird wirklich richtig gut“, während man noch mittendrin ist, dann ruiniert man es höchstwahrscheinlich in genau diesem Moment. Das gilt fürs Töpfern wie für die Schauspielerei.

Im Zorn liegt große Kraft

Wir sehen Gandhi meist als sanfte, friedliche Person, vollkommen ruhig und besonnen. Dabei war es schierer Zorn, der ihn antrieb. Als junger Mann wurde er einmal aus rassistischen Gründen aus dem Zug geworfen. Und genauso habe ich ihn gespielt. „Niemand wird mich jemals wieder aus einem Zug werfen.“ Er war so unfassbar voller Wut. Er hätte ebenso gut eine bewaffnete Revolution anzetteln können, die in einem grausamen Massaker endet. Zum Glück war er nicht nur wütend, sondern gleichzeitig auch sehr intelligent.

In jedem steckt ein Mörder

Wir alle haben eine friedliche, rationale Seite und eine wütende, gewalttätige. Die meiste Zeit bewegen wir uns irgendwo in der Mitte. Wir leben in einem friedlichen, stabilen und bequemen Europa. Wir haben einen angenehmen Job, und niemand will uns an den Kragen. Zumindest noch nicht. Aber es steckt Gewalt und Brutalität in jedem Einzelnen von uns.

Gewohnte Pfade verlassen

Ich besuchte eine sehr gute Schule in England. In den letzten Jahren spezialisierte ich mich jedoch nicht mehr auf die künstlerischen Fächer, sondern wählte Physik, Biologie und Chemie. In dieser Zeit lernte ich viel über Ursache und Wirkung und entwickelte einen Appetit für logische Schlussfolgerungen. Ich profitiere also bis heute von dieser Entscheidung.

Respektvoll mit Sprache umgehen

Ich mache mir Sorgen, dass unsere Sprache verfällt und wir uns immer schlechter ausdrücken können. Das liegt einerseits an der modernen Technik, SMS, Twitter und so weiter, andererseits ist es einfach Faulheit. Ich weiß, das klingt altmodisch und schulmeisterlich, aber so denke ich nun mal. Deshalb habe ich mich gefreut, als Colin Firth fragte, ob ich bei „The People Speak“ mitmachen will, einem Bühnenprogramm über die Kraft der politischen Rede. Die Menschen mit einer Rede in Bann zu schlagen ist eine Fähigkeit, die wir mehr und mehr verlieren, fürchte ich.

Man kann aus allem lernen

Ich habe einige grauenhafte Filme gemacht. Zum Glück kann ich relativ sicher sein, dass kaum jemand sie gesehen hat. Aber es ist wie beim Töpfern, wenn der Ton auch mal in sich zusammenfällt. Man muss einfach denselben Klumpen Ton nehmen und etwas Neues daraus machen. Deswegen bedauere ich keinen meiner Filme. Mir ist es zwar lieber, wenn mehr Leute meine guten Filme sehen als meine schlechten, aber das bereitet mir keine schlaflosen Nächte. Denn ich habe jedes Mal etwas dazugelernt.

Durchhalten zählt

Wer etwas erreichen will, wird unausweichlich auch mal auf die Schnauze fallen. Fällt man auf die Schnauze, muss man wieder aufstehen und weitermachen. Das ist hart, aber so ist es nun mal. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist ein Film, den ich auf dem Jahrmarkt sah und der von einem kleinen italienischen Jungen handelte. Der Film hieß „Never Take No For An Answer“, und der Junge, der damals etwa so alt war wie ich und mir auch ähnlich sah, hat darin einen kranken Esel. Also versucht er, vom Papst persönlich die Erlaubnis zu erhalten, den Esel in die Kapelle des Schutzheiligen der Tiere zu bringen, um ihn segnen und heilen zu lassen. Eine herzzerreißende Geschichte darüber, dass man niemals aufgeben darf, wenn man an etwas glaubt. Danach wusste ich, dass ich Schauspieler werden will. Auch wenn ich damals noch keine Vorstellung davon hatte, was ein Schauspieler überhaupt macht.

Ohne Rhythmus geht es nicht

Musik spielt in meinem Leben eine große Rolle. In den 60er-Jahren wäre ich beinah Musiker geworden. Ich hatte Lieder für ein Musical namens „A Smashing Day“ komponiert. Produzent war Brian Epstein, der Manager der Beatles. Ich spielte meine Lieder auf der Gitarre und sang dazu. John Lennon und Ringo Starr sahen meinen Auftritt, kamen hinter die Bühne und sagten zu mir, ich solle unbedingt eine Musikkarriere starten. Doch kurz darauf schloss ich mich der Royal Shakespeare Company an und wurde Schauspieler. Eine Entscheidung, die ich nie bereut habe. Musik fasziniert mich aber nach wie vor. Alles, was ich mache, hat mit Rhythmus zu tun. Meine Frau und ich haben eine eigene Produktionsfirma gegründet, und einer unserer nächsten Filme wird von einem berühmten Cellisten handeln.

Manchmal muss man loslassen

Lange Zeit wollte ich einen Film drehen, in dem ich William Shakespeare spiele. Ich hatte sogar schon die Rechte an einem sehr guten Roman über sein Leben gekauft. Aber wir konnten einfach nicht die richtigen Leute dafür begeistern. Also mussten wir das Projekt wieder fallen lassen, obwohl es bis heute einer meiner größten Träume ist. Aber vielleicht wird es sich ja eines Tages doch noch ergeben.

 

Protokoll: Christoph Koch
Erschienen in: GQ
Foto: erin (CC BY 2.0)

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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