Mike Bechtel ist Deloittes leitender Zukunftsforscher und ein international gefragter Vortragsredner. Ein Gespräch über die Macht des Geschichtenerzählens, den Einsatz von Technologie – und lahme Sonnenuntergänge.
Herr Bechtel, was macht ein „Chief Futurist“?
Mike Bechtel: Ich würde die Arbeit von meinem Team und mir in drei Phasen einteilen: Sensing, Sensemaking und Storytelling. Sensing heißt, dass wir nach neuen Signalen und Strömungen suchen. Wir stoßen in Zeitungsartikeln ebenso auf etwas Neues und Interessantes wie auf nerdigen Webseiten oder in Gesprächen mit unseren Klienten in aller Welt. Beim Sensemaking geht es darum, diese vielen kleinen neuen Entdeckungen in einen Zusammenhang zu bringen. Zeigen sie alle in dieselbe Richtung? Oder sind sie Teil eines wiederkehrenden Zyklus oder einer exponentiellen Entwicklung? Wir versuchen sozusagen, die Flugbahn gewisser Entwicklung abzuschätzen und zu unterscheiden zwischen dem, was möglich ist und dem, was wahrscheinlich ist. Beim Storytelling geht es am Ende darum, unsere Erkenntnisse in eine attraktive Form zu gießen. Niemand liest gerne trockene Whitepaper. Es gibt genügend, was uns alle permanent ablenkt oder womit wir unsere Zeit verbringen möchten. Deshalb möchten wir nicht nur informieren, sondern auch inspirieren. Es gilt, das Herz ebenso anzusprechen wie den Kopf.
Für welchen Zeitraum interessieren sich Unternehmen, wenn sie mit Ihnen über die Zukunft sprechen wollen?
Ich habe lange mit einem recht strengen Zeitfenster von 18 bis 24 Monaten gearbeitet.
Eine erstaunlich knappe Zeitspanne.
Für die nächsten zwölf Monate ist bei den meisten Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen ohnehin schon alles geplant. Man muss also über diesen Zeitraum hinaus- denken, um etwas in der Planung und Budgetierung verändern zu können. Denkt man aber zu weit über die Marke von 24 Monaten hinaus, ist so manche Führungskraft gar nicht mehr in der Firma. Vereinfacht gesagt, denken manche der Entscheiderinnen und Entscheider, die uns beauftragen: Was zu kurzfristig ist, kann ich nicht ändern. Was zu langfristig ist, betrifft mich vielleicht gar nicht mehr. Trotzdem haben wir den Zeitraum in der letzten Zeit ausgeweitet.

Weshalb?
Haben wir nicht alle das Gefühl, dass die Zukunft schneller näher kommt als früher? Dass wir bei vielen Entwicklungen, die exponentiell vonstattengehen, in den steilen Teil der Kurve kommen? Das, von dem wir dachten, dass es zehn Jahre entfernt ist, steht schon viel früher vor der Tür. Deshalb betrachten wir inzwischen einen Zeitraum von einem bis zehn Jahren. Manche Kunden wollen nur das Budget für das nächste Jahr planen, andere wollen wissen, wie sich ihr Geschäft in den nächsten fünf oder zehn Jahren verändert. Sie wollen ihr Geschäftsmodell entsprechend anpassen und zukünftige Entwicklungen bestmöglich nutzen.
Ein Thema, das viele Firmen umtreibt, ist generative KI. Wie oft müssen Sie und Ihr Team derzeit Fragen zu Diensten wie ChatGPT oder Midjourney beantworten?
Oft. Ich sage gern, dass ich inzwischen an einem Punkt meiner beruflichen Laufbahn angelangt bin, an dem ich mich langsam von einem begeistert-optimistischen Geek zu einem skeptisch-pragmatischen Kauz entwickle. Mich erschüttert so schnell nichts mehr. Aber in meinen 26 Berufsjahren habe ich erst ein einziges Mal erlebt, dass eine neue Technologie die Aufmerksamkeit, die Vorstellungskraft und die Budgets von Menschen und Unternehmen so sehr in ihren Bann gezogen hat, wie generative KI das seit zwei Jahren tut. Und das war in den Neunzigerjahren, als das Internet populär wurde. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass ich mit den Unternehmen, die uns beauftragen, immer intensiver über KI spreche.
Nervt Sie das Thema schon?
Nein! Ich kann sehr gut verstehen, welche Magie es hat. Dinge wie die Blockchain oder Quantencomputing erfordern ein größeres wissenschaftliches Verständnis und sind oft sehr abstrakt. Schon klar, eine dezentrale Datenbank oder ein Smart Contract sind interessant, aber niemand würde in seiner Freizeit damit experimentell so rumspielen, wie wir alle es bei ChatGPT gemacht haben. Andere Trends wie Superpositioning und Qubits sind zwar faszinierende Sachen – aber viel Glück dabei, wenn Sie sich einen Quantencomputer anschaffen wollen!
Das Faszinierende an der neuen KI-Welle dagegen war ja, dass sie über Nacht Millionen von Menschen erreichte und ihnen die Technologie zur Verfügung stand – und dazu mit einem völlig vertrauten Interface. Jeder weiß, wie so eine kleine Textbox zu bedienen ist. Menschen, die anspruchsvolle Business-ideen hatten, konnten und können mit diesen neuen Werkzeugen großartige Dinge vollbringen. Und jemand, der das heutige Wetter in Reimform erhalten möchte, kann das auch.
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Interview: Christoph Koch
Foto: privat