Wir Zappelkinder: Leistungsdroge Ritalin

Written by on 05/04/2009 in Neon with 2 Comments

Medikamente wie RITALIN sind für Studenten und Kreative zur Leistungsdroge geworden: Mit ihnen lässt sich länger arbeiten – und danach besser feiern. Experten fordern Antidopingkontrollen an Universitäten.

„Ich mache immer alles auf den letzten Drücker – ich brauche irgendwie diesen Druck im Nacken.« Wie viele hundert Mal hat man diesen Satz schon gehört? Während des Studiums, im Job, wenn jemand beim Abendessen von seinen Projekten erzählt – immer werden die Kriegsgeschichten rausgekramt, wie der eine nach einem durchgearbeiteten Wochenende die Präsentation doch noch fertig bekommen hat oder der andere in der Lernphase vor der Abschlussprüfung praktisch gar nicht mehr geschlafen hat. Dann sitzt man irgendwann selber am Schreibtisch, und draußen wird es erst dunkel und dann langsam wieder hell, und man wird nicht fertig. Die Lider werden so schwer, die Gedanken so flatterig, und der Kaffee schmeckt bitter. Wie machen das nur die anderen?

Die Chancen stehen gut, dass sie sich chemische Hilfe verschaffen. Mit Medikamenten wie Ritalin, die eigentlich Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen (ADS) verschrieben werden. Der Wirkstoff Methylphenidat, der auch unter den Markennamen Attenta oder Concerta vertrieben wird, gleicht bei ADS-Kranken ein Dopamindefizit aus, erklärt Dr. Jakob Hein, Spezialist für Suchtberatung an der Charité. »Bei Gesunden ist das Defizit nicht vorhanden, und daher wirkt das Methylphenidat oft anregend.« Im Gegensatz zu stimulierenden Drogen wie Amphetaminen oder Kokain macht Ritalin nicht einfach nur hibbelig und wach, sondern hilft einem, sich vollkommen auf eine einzige Sache zu konzentrieren.

Menschen, die Ritalin zum Arbeiten oder Lernen benutzen, berichten zum Beispiel, dass sie während der vier- bis sechsstündigen Wirkungszeit nahezu kein Bedürfnis verspüren, in ihr E-Mail-Postfach zu schauen, zum Kühlschrank zu gehen oder was man als Übersprungshandlung eben so tut, wenn man eigentlich was wegschaffen will.

Daniela, 29, aus Berlin ließ sich von Ritalin dabei helfen, ihre Magisterarbeit fertigzuschreiben, während sie tagsüber schon in einer PR-Agentur arbeitete. Anfangs klappte es noch ohne Hilfsmittel, aber in der letzten Nacht vor Abgabe ging plötzlich gar nichts mehr. »Ich habe mir dann bei einer Freundin Ritalin geholt «, erzählt sie mit einer Mischung aus Stolz und Scham, mit der man sonst vielleicht einen betrunkenen One-Night-Stand beichtet. »Ich war plötzlich total konzentriert und konnte wieder klar denken, während vorher in meinem Kopf nur noch Kabelsalat geherrscht hatte. Ich habe dann noch fünfzehn SMS geschrieben, während ich das Schlusskapitel verfasst habe, so überbordend voll präziser Gedanken war ich.« Ein anderes Mittel, das in letzter Zeit populär wurde, um sich beim Lernen oder Arbeiten zu besonderen Leistungen zu pushen, ist Modafinil der US-Firma Cephalon. Das in Deutschland als »Vigil« vertriebene Medikament wird eigentlich bei Narkolepsie verschrieben, ähnlich wie Ritalin kann man es sich jedoch mit ein wenig Hartnäckigkeit und Einfallsreichtum im Internet oder im Bekanntenkreis besorgen.

Die Zahlen, wie viele Studenten beispielsweise beim Lernen zu den Medikamenten greifen, gehen weit auseinander – sie reichen je nach Studie von drei bis zu 25 Prozent. Eine Umfrage unter den Lesern des US-Wissenschaftsmagazins »Nature« förderte zutage, dass es jedoch nicht nur unvernünftige und überforderte Studienanfänger sind, die sich Hilfe im Arzneischrank holen, sondern auch ältere Semester: Jeder Fünfte der befragten Akademiker räumte ein, mehr oder weniger regelmäßig Konzentrationshelfer wie Ritalin oder Modafinil oder Betablocker zu schlucken.

Die Zahl derjenigen, die die Mittel ausschließlich verwendeten, um ihre Leistung zu steigern, war um fünfzig Prozent höher als die Zahl derjenigen, die die Medikamente nahmen, um damit eine tatsächliche Krankheit zu therapieren. Rund zwei Drittel sagten, sie hätten Kollegen, die dieselben Medikamente benutzten. Die Umfrage war keinesfalls repräsentativ – dennoch zeigen die Ergebnisse, dass es keine kleine Gruppe von Tablettenfreaks mehr ist, die sich mit Psychopharmaka für die Arbeit fit macht.

Auch die Verkaufszahlen der betreffenden Medikamente steigen seit Jahren kontinuierlich an: 1996 kauften deutsche Apotheken insgesamt 88 Kilogramm des Ritalin-Wirkstoffs Methylphenidat – zehn Jahre später waren es 1221 Kilogramm, mehr als das Dreizehnfache. Der Schweizer Pharmakonzern Novartis macht mit den Ritalin-Pillen inzwischen 330 Millionen Dollar Umsatz, die US-Konkurrenz Johnson & Johnson mit ihrem Präparat Concerta sogar 930 Millionen Dollar. Und auch wenn von diesen Mengen sicherlich nur ein kleiner Teil zweckentfremdet und als Karrierekickstart und Lernbooster verwendet wird – die Hemmschwelle zur chemischen Selbstaufrüstung sinkt.

Neuroethiker wie die Hirnforscherin Martha Farah von der University of Pennsylvania halten es deshalb für wahrscheinlich, dass in Zukunft an Schulen und Universitäten ähnliche Antidopingregeln eingeführt werden müssen wie im Sport. Denn wenn man sieht, wie ein Teil der Kommilitonen oder Kollegen sich fitter macht, als es die Natur vorsieht – wie lange kann man es sich dann leisten, auf die se Hilfe zu verzichten? Spätestens wenn es der Forschung gelingt, die Nebenwirkungen noch weiter zu reduzieren, könnte es nur noch eines geben, das Menschen im Kampf um Studienplätze an Eliteunis oder um Beförderungen davon abhält, ihre Leistungen chemisch aufzubessern: das Geld. Hirndoping, so eine Befürchtung von Farah und ihren Kollegen, könnte einerseits selbstverständlich und andererseits zu einem Privileg der Wohl habenden werden.

Noch aber haben die Medikamente, mit denen eine 80-Stunden-Woche scheinbar locker weggesteckt wird, »Risiken und Nebenwirkungen «, zu denen man seinen Arzt oder Apotheker befragen soll. Wer das nicht kann, weil er sich das Zeug auf dem Schwarzmarkt besorgt, beruhigt sich meistens mit den millionenfachen Verschreibungen von Ritalin und anderen Produkten an ADS-kranke Kinder.

Was für den Zappelphilipp der Nachbarn gut ist, kann für mich ja nicht so schlecht sein. »Mit der gleichen Logik könnten diese Menschen auch Chemotherapie für Kinder einnehmen, statt zum Friseur zu gehen«, warnt jedoch Suchtexperte Jakob Hein. »Das ist kompletter Unsinn! Vor Einnahme des Medikaments müssen wichtige Untersuchungen durchgeführt werden. Wir sind Lebewesen mit fein abgestimmten Organismen. Jede Veränderung in diesen Systemen hat ihren Preis, je stärker die Veränderung, desto höher der Preis.« Neben erhöhtem Blutdruck und dem unterdrückten Hunger- und Durstgefühl ist vor allem der Raubbau am eigenen Körper die schlimmste Nebenwirkung: Wer seinem Körper über längere Zeit zu viel Schlaf entzieht, riskiert Halluzinationen und schwere Erschöpfungszustände. »Wenn uns der Körper durch Schmerz, Müdigkeit oder Konzentrationsschwäche signalisiert, dass Regeneration notwendig ist, dann sollten wir auch in der Lage sein, auf unseren Körper zu hören«, so Jakob Hein.

Auch Daniela, die bei ihrer Magisterarbeit gute Erfahrungen mit Ritalin gemacht hatte und es danach auch im Job immer öfter nahm, lässt inzwischen die Finger davon: »Anfangs hat es phänomenal geholfen. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich ohne großes Nachdenken dazu gegriffen habe«, erzählt sie. »Immer wenn ich müde war, unkonzentriert oder lustlos. Aber eigentlich wurde ich insgesamt immer müder und erschöpfter – weil ich mich pausenlos auf Leistung getrimmt habe. Am Ende war ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben ausgebrannt. Und hatte ordentlichen Respekt vor meinem Ehrgeiz – und auch vor Ritalin.« Der Leistungswettbewerb in Schule, Uni oder Job ist aber nicht das einzige Feld, auf dem die Nachfrage nach dem Gehirndoping wächst:

Auch beim Ausgehen kann Ritalin gute Dienste leisten. Man ist weniger schnell müde, die Stimmung ist angenehm aufgehellt, ohne dass man sich am nächsten Tag mit einem brutalen Kater dafür schämen müsste, dass man in der Nacht davor nackt, »Das ist mein Hitler-Remix, ihr geilen Frösche!« schreiend am Kronleuchter geschwungen hätte. »Das Tolle an Ritalin ist, dass es so unaufdringlich ist. Du bist nicht der unangenehme Druffi, der keinem Beat widerstehen kann oder total durch ist – sondern angenehm wach und klar.« So schwärmt Martin, Politikstudent aus Berlin, von der Wirkung und fährt dann mit einem Beispiel fort. »Einmal stand ich auf einer Party, angetrunken und hundemüde, aber das Mädchen, mit dem ich spontan rumgeknutscht hatte, war noch wahnsinnig fit. Sie wollte bleiben – also wollte ich auch bleiben, klar. Und habe eine Ritalin genommen. Wir haben noch eine Weile getanzt und getrunken, dann ist sie mit zu mir gekommen.« Wer es etwas heftiger mag, kann die Tabletten auch zerstoßen und durch die Nase ziehen, der Stoff wirkt dann deutlich schneller, ist dadurch aber auch gefährlicher.

Doch egal, ob als Pille oder als Pulver – Ritalin und seine Konkurrenzprodukte sind so etwas wie das Kokain des Bionade-Biedermeier: Es hilft dem Freiberufler oder dem Agenturkreativen, mehr Arbeit aus sich herauszupressen und danach trotzdem noch das Wochenendprogramm im Nachtleben zu absolvieren. Gleichzeitig macht Ritalin keinen schlimmen Kater, und man ist nicht verhaltensauffällig, sondern einfach nur gut gelaunt und freundlich, ein bisschen besser funktionierend – gewissermaßen die perfekte Droge für Firmenfeiern. Man muss sich nicht in dunklen Hauseingängen rumdrücken, sondern bestellt es im Internet – und über Verunreinigungen durch Backpulver und andere Streckmittel muss man sich auch keine Sorgen machen, die Laboratorien großer Pharmakonzerne bürgen für gleichbleibende Qualität. Obwohl die Mittel rezeptpflichtig sind, hat man von der Polizei in der Regel keinen Ärger zu befürchten – trotzdem umweht den Ritalin-Konsumenten genau das richtige kleine bisschen Outlawtum, der winzige Kitzel, etwas Verbotenes zu tun ist da, ohne dass je wirklich Gefahr bestünde, im Knast oder mit einem Messer zwischen den Rippen in der Gosse zu landen.

Wenn Koks die 80er dominierte, Ecstasy die 90er, so sind die leistungssteigernden Psychopharmaka von Ritalin bis Modafinil wohl die Droge der 00er Jahre: keine romantische, hippieske Erweiterung der Sinne, keine »Doors of Perception«, die durchschritten werden – man schafft einfach mehr weg, roboterhaft, effizient, sinnvoll, aber unsinnlich. Amerikanische Militärpiloten fliegen bereits heute viele ihrer Einsätze – vorausgesetzt, sie sind damit einverstanden – unter dem Einfluss von Modafinil. Warum sollte die Einnahme also vor dem schwierigen zweiten Staatsexamen oder dem Physikum verboten sein?

Noch scheint es unvorstellbar, aber unter Umständen befinden wir uns auf einem Weg, den Schlaf gänzlich abzuschalten. Noch klingt es wie ein Hirngespinst, aber wer hätte vor fünfzig Jahren gedacht, dass es Forschern gelingt, den weiblichen Körper mit einer Pille derart zu überlisten, dass er nicht mehr schwanger wird? Ähnlich revolutionär wie die Antibabypille für den Sex, die weibliche Unabhängigkeit und damit die gesamte Gesellschaft könnten sich Weiterentwicklungen von Ritalin und Modafinil für unsere Arbeitswelt erweisen – eine weitere Entkoppelung des Menschen von der Natur, die uns heute noch abartig erscheint, aber bald vielleicht so selbstverständlich ist, wie als Mädchen zum Frauenarzt zu gehen und sich die Pille verschreiben zu lassen. »Je mehr wir über das menschliche Schlafbedürfnis wissen, umso eher können wir es überlisten«, sagt Russell Foster, ein britischer Schlafforscher im Wissenschaftsmagazin »New Scientist«. »In zehn bis zwanzig Jahren können wir den Schlaf mithilfe von Medikamenten abschalten.« Eine Welt, in der wir nur noch zwei Stunden pro Nacht oder nur noch drei Nächte pro Woche schlafen und den Rest mit Arbeit oder Unterhaltung verbringen, da sind sich die meisten Schlafforscher einig, scheint auf lange Sicht unausweichlich. Ob es eine bessere Welt sein wird? Vielleicht sollten wir erst mal eine Nacht drüber schlafen.

Text: Christoph Koch
Erschienen in: NEON

Hinweis: Auf neon.de gab es bereits eine aufgeregte Debatte zum Thema Ritalinmissbrauch – in der dem Autor von Verharmlosung über Panikmache bis zu Pharmaschmiergeldern eine ganze Menge vorgeworfen wurde.



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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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2 Reader Comments

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  1. Simone Marco sagt:

    Man müsste sich die Frage stellen ob wir wirklich zu Robotern werden wollen, die Tag und Nacht nur „funktionieren“, oder wäre es am ende nicht doch besser wenn wir unsere Induvidualität behalten wollen. So stellt sich die Frage Mensch oder Zombie der von Pharmariesen abhängig ist?

  2. Horst sagt:

    Die Menschen werden immer individuell sein. Die Wirkung von solchen Neuroenhancern wird meiner Meinung dadurch sogar begünstigt das eigene Ego weiter auszubauen und zu individualisieren.
    Der Weg zu persönlichen Zielen wird nicht mehr allzu stark von Mitmenschen beeinflusst, der zwischenmenschliche Informationsaustausch findet jedoch trotz alledem vermehrt statt.

    Eine individuellere Gesellschaft wird konstruiert.

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