Kommunikativer Kontrollverlust: Hallo, wer spricht da?

Written by on 24/04/2024 in brand eins with 0 Comments

Die Frage, wem man im Netz noch glauben kann, wird immer schwieriger zu beantworten. Ist das der Beginn eines kommunikativen Kontrollverlustes? Und was könnte dagegen helfen?

Olaf Scholz ist vieles, aber keine Quasselstrippe. Der Bundeskanzler gilt als einer, der sich zu wenig erklärt. Doch jüngst hörte man ungewöhnlich viel von ihm – vor allem Ungewohntes: „Solange wir Mist bauen“, so Scholz in einem Werbevideo, das ihn am Rednerpult des Bundestags zeigt, „so lange schreibt die »Bild«-Zeitung über diesen Mist. (…) Das ist hart.“

Das Video war manipuliert. Wer ganz genau hinsah, konnte im Video ein winziges „KI generiert“ entdecken, doch wer schaut im Netz schon genau hin? Zudem gibt es auch >> Deepfakes (siehe Infokasten unten) ohne solch Kleingedrucktes. Und selbst auf seriösen Websites wie der des »Spiegel« werden Werbeanzeigen eingeblendet, die Fotos einer angeblichen Verhaftung des TV-Talkers Markus Lanz zeigen. Wer die vermeintliche Nachricht anklickt, landet auf einer Seite, die aussieht wie von Tagesschau.de und wo behauptet wird, Lanz würde mundtot gemacht, weil er eine brillante Geldanlagestrategie habe verraten wollen.

Laut Ermittlern erwirtschaften die Fälscher mit der Masche weltweit Milliarden Dollar. Ihnen beizukommen ist schwierig: Online-Anzeigen werden heutzutage automatisiert ausgespielt und nicht mehr vorab geprüft. Medien wie »Spiegel« nehmen zwar irreführende Anzeigen von ihren Seiten, wenn sie darauf hingewiesen werden, aber am Ende bleibt es ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Kriminellen.

Desinformation gibt es, solange wir Menschen uns untereinander austauschen. In der römischen Antike ließ Octavian – beispielsweise auf Münzen graviert – korrumpierende Propaganda über seinen beim Volk beliebten Widersacher Marcus Antonius verbreiten, um diesen beim Rennen um die kaiserliche Herrschaft abzuhängen. 1835 veröffentlichte eine New Yorker Zeitung eine sechsteilige Reihe über eine nicht existente Mondkolonie – und wurde dafür mit einem sprunghaften Auflagenanstieg belohnt. Josef Stalin und Mao Tse-tung waren dafür bekannt, politische Rivalen aus Fotos herausretuschieren zu lassen. Die Liste historischer Fake News ließe sich beliebig verlängern.

Der große Unterschied: Früher war es aufwendig, Fälschungen zu produzieren und zu verbreiten. Deshalb blieben sie den Reichen und Mächtigen vorbehalten. Heute kann jeder mit ein bisschen Übung ein täuschend echt wirkendes Bild wie das des Papstes in Daunenjacke herstellen. Auch die Manipulation von Stimmen oder Videoaufnahmen ist schnell gelernt, und die dazu nötigen Werkzeuge sind frei verfügbar.

Fälscher lieben KI

Was wir derzeit erleben, gleicht mehr und mehr einem kommunikativen Kontrollverlust. Nur vier Prozent der Europäerinnen und Europäer sind laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom März 2023 „nie unsicher“ über den Wahrheitsgehalt von Informationen im Internet. 54 Prozent der Befragten gaben an, häufig oder sehr häufig unsicher zu sein. Es wird also immer schwieriger zu entscheiden, welchen Informationen wir vertrauen können. Schon allein, weil wir oft zweimal hinschauen müssen, um herauszufinden, von wem eine Nachricht wirklich stammt.

„Das Gefühl des Kontrollverlustes, das einige verspüren, entstammt vor allem der Verunsicherung über den Absender“, sagt Nils Kumkar, Soziologe an der Universität Bremen und Autor des Buchs „Alternative Fakten“. „Sei es durch KI-Fälschungen, nachgebaute einzelne Nachrichtenwebseiten, aber auch dadurch, dass in den sozialen Medien die ursprüngliche Quelle nicht immer klar ersichtlich ist.“

Wie sich digitale Desinformation genau auswirkt, ist schwer zu messen. Dass sie Folgen hat, steht außer Frage. So denkt laut einer Umfrage des »Economist« einer von fünf jungen Menschen in den USA, der Holocaust sei ein Mythos – der Bildungsgrad spielt dabei keine Rolle. Es gibt aber Zusammenhänge zwischen starker Social-Media-Nutzung und antisemitischen Haltungen. Das verwundert nicht: Der mehrfach verurteilte rechtsextreme Verschwörungserzähler Alex Jones bekam bei X (ehemals Twitter) nicht nur sein gesperrtes Konto zurück – er wurde im Dezember 2023 vom X-Besitzer Elon Musk sogar in eine Talkshow eingeladen. Geleakte Unterlagen des Konzerns Meta zeigten wiederum schon 2021, dass Facebook es nicht einmal vermag, fünf Prozent der Hass-Inhalte von seiner Plattform zu löschen.

Wohin gezielte Desinformation im Netz führen kann, ließ sich in der vergangenen Dekade beobachten:

Weiterlesen auf brandeins.de
Foto: Nijwam Swargiary / Unsplash

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

Subscribe

If you enjoyed this article, subscribe now to receive more just like it.

Subscribe via RSS Feed

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Top

Entdecke mehr von Christoph Koch

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen