Als der Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof 1887 im damals zum russischen Kaiserreich gehörenden Polen eine neue Sprache erfand, wollte er nicht weniger, als die Welt verändern. Die in Kriege und Konflikte verwickelte Menschheit sollte sich durch eine einheitliche und neutrale Sprache besser verstehen – und dadurch friedlicher zusammenleben. Sein Konstrukt nannte er internationale Sprache und veröffentlichte es unter dem Pseudonym Doktoro Esperanto, zu Deutsch: Doktor Hoffender. Diese einfach zu erlernende Plansprache wurde bald Esperanto genannt. Zu einer weltweiten Universalsprache entwickelte sie sich nie. Aber was wäre, wenn alle Menschen Esperanto sprächen?
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Derzeit existieren weltweit 6500 bis 7000 verschiedene Sprachen, es werden jedoch immer weniger. Etwa die Hälfte ist laut Fachleuten vom Aussterben bedroht, rund 1500 könnten bis zum Jahr 2100 verschwunden sein. Wie viele Menschen Esperanto beherrschen, lässt sich nicht genau sagen. „Die Schätzungen reichen von 500 000 bis 4 Millionen, meist wird aber von 2 Millionen ausgegangen“, sagt Sabine Fiedler, Sprachwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Interlinguistik und Esperantologie an der Universität Leipzig.
Mehr Chancengleichheit und weniger Witze
Sprächen alle Menschen Esperanto, wäre das ein großer Schritt in Richtung internationale Gleichberechtigung. „Jeder Mensch müsste die Sprache neu lernen, das würde Chancengleichheit bedeuten, weil es keine Muttersprachler mehr gäbe, die Vorteile hätten“, so Fiedler. Viele könnten es sich zum Beispiel sparen, Englisch zu lernen – und „es würde sich auch niemand mehr über das angeblich schlechte Englisch von Politikerinnen und Politikern lustig machen.“
Vollkommene Chancengleichheit gäbe es aber nicht, denn Esperanto orientiert sich an romanischen und germanischen Sprachen. „Asiatische Menschen sind beim Esperanto-Lernen gegenüber Europäerinnen und Europäern zwar im Nachteil“, sagt Fiedler, die Plansprache sei aber leichter zu erlernen als Deutsch oder Englisch.
Dass eine Einheitssprache zu weltweitem Frieden führen würde, wie vom Esperanto-Erfinder Zamenhof erhofft, darf man indes bezweifeln. Egal ob zwischen Nord- und Südkorea oder zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland – die Geschichte zeigt, dass gemeinsame Sprachen kein harmonisches Miteinander garantieren. Trotzdem brächten acht Milliarden Esperanto-Sprecherinnen und -Sprecher die Welt zweifellos näher zusammen. Hemmungen gegenüber fremden Kulturen nähmen vermutlich ab, die Reisebranche könnte davon profitieren, dass allen zumindest sprachlich jedes Ziel weltweit offenstünde.
Unternehmen wären überhaupt die größten Profiteure: Sprachbarrieren zwischen Ländern wirken sich ähnlich negativ auf Wirtschaftsbeziehungen aus wie Strafzölle. So zeigte eine Studie 2013, dass mangelnde Fremdsprachenkenntnisse die britische Wirtschaft jährlich circa 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes kosten. Dabei ist Großbritannien mit einer global weitverbreiteten Sprache noch vergleichsweise gut dran. Geht man davon aus, dass andere Länder mindestens genauso betroffen sind, könnten weltweit entfallende Sprachbarrieren mehr als drei Billionen US-Dollar pro Jahr einbringen.
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Text: Christoph Koch
Foto: Stefan auf Unsplash