King’s Cross: Ein Viertel für alle

Written by on 03/12/2023 in brand eins with 0 Comments

Hinter dem Bahnhof King’s Cross ist auf einer Industriefläche mitten in London ein neuer Stadtteil entstanden: lebendig, grün – und bezahlbar.

Robert Evans ist bester Dinge. „Vergangene Woche haben wir den letzten Bauantrag für das letzte Gebäude eingereicht“, sagt er. Der Abschluss des über zwei Jahrzehnte andauernden Immobilienprojekts ist nun in Sicht. Evans, 52, ist einer der geschäftsführenden Gesellschafter bei Argent LLP. Der Londoner Immobilienentwickler ergatterte 2001 den Auftrag der Grundeigentümer, die Industriebrache im Stadtteil King’s Cross in ein lebendiges Viertel zu verwandeln. 24,5 Hektar, darauf 730.000 Quadratmeter Gebäudefläche, zehn neue öffentliche Plätze, Gesamtkosten von rund drei Milliarden Euro.

Es ist eines der größten Projekte dieser Art in Europa. Und sehr ambitioniert: klimaneutral, bezahlbar, für die Menschen gemacht. Ein Gegenentwurf zu sterilen Business-Vierteln wie der neuen Londoner Bankenmeile Canary Wharf. Dort befand sich früher eine ähnliche Industriebrache wie in King’s Cross.

Evans – akkurater Anzug, fester Händedruck, schneller Schritt – hat die Entwicklung von Anfang an begleitet. Sein Plan scheint aufgegangen zu sein: An diesem sonnigen Nachmittag im Mai spielen Kinder in einer großflächigen Brunnenanlage. Skateboarder rollen über Sandsteinplatten. Auf mit Kunstrasen bezogenen Stufen am Regent’s Canal, der das Areal durchkreuzt, sitzen Menschen verschiedenen Alters und picknicken, lesen, albern herum. Im Foyer des ehemaligen Kornspeichers, der heute das Central Saint Martins, eine Kunst-Universität, beherbergt, spielen eine Mutter mit ihrer Tochter Federball und zwei ältere Herren Tischtennis. In einem überdachten Freiluftareal stehen schwarzgekleidete Kunststudentinnen und rauchen. Am anderen Ende macht eine Fitness-Gruppe Burpees.

Gerade als ich Evans fragen will, ob er all das für Journalisten inszenieren lässt, sagt er: „Hier stehen am Wochenende Food-Trucks. Manchmal finden Flohmärkte statt. Und vorn am Kanal veranstalten wir im Sommer abends Open-Air-Kino. Morgens gibt es oft kostenlose Yogaklassen.“ Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Aber wann immer ich in den nächsten drei Tagen über das Areal schlendere: Es ist stets etwas los. Je nach Uhrzeit, Wetter und Tag passiert etwas anderes. Und ich bekomme den Eindruck, dass die Menschen sich hier wohlfühlen. Woran liegt das? Was braucht ein Viertel, um lebenswert zu sein? Und: Wie hat man es in King’s Cross geschafft, diese Ideen umzusetzen?

Eine Antwort in 12 Thesen, entstanden auf Spaziergängen mit Verantwortlichen, Anwohnerinnen und einer Stadtplanerin.

1. Spar dir Verbote.

„Unsere Einstellung ist eher ,Warum nicht?‘ statt strenger Regeln“, sagt Robert Evans. Sicherheit werde sehr ernst genommen, aber grundsätzlich versuche man so viel wie möglich zu erlauben. „Man darf sein eigenes Bier und Essen mitbringen. Alle Rasenflächen betreten. Skateboarden, Fahrrad fahren, Musik hören, Sport treiben. Solange niemand belästigt oder gefährdet wird, ist alles okay.“ Wie zu seiner Bestätigung führt der Spaziergang an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die einen Tiktok-Tanz probt.

2. Respektiere die Geschichte.

Ihre Hochzeit hatte die Gegend Mitte des 19. Jahrhunderts, als hier Kohle, Getreide, Fisch und andere Güter von aus Nordengland kommenden Zügen auf Kähne umgeladen wurden. Die Rohstoffe versorgten das rasant wachsende London, ein Teil der Kohle wurde direkt vor Ort zu Koks und Gas verarbeitet.

Doch mit dem Aufkommen motorisierter Lieferwagen wurden Straßen als Transportwege wichtiger, und das Verladen von der Schiene aufs Wasser verlor an Bedeutung. Die Gegend verfiel. In den Achtziger- und Neunzigerjahren tummelten sich hinter den beiden Groß- bahnhöfen King’s Cross und St. Pancras vor allem Kleinkriminelle, Dealer und Prostituierte. Das Gelände wurde als Busdepot und Tankstelle für Zementmischer genutzt, als illegale Mülldeponie und für Lagerhaus-Raves.

Heute befindet sich in dem alten Getreidespeicher die Kunst-Universität. Dort, wo früher der Kanal in ein Beladebecken abzweigte, liegt nun der Granary Square, ein Platz mit einem bei Kindern beliebten Springbrunnen. Und der einstige Coal Drops Yard, wo die Kohle umgeschlagen wurde, wird von Modegeschäften und Restaurants gesäumt. „Die alten Gebäude waren einerseits eine Einschränkung für uns, weil sie meist unter Denkmalschutz stehen“, sagt der Architekt Graham Morrison, 72, der mit seinem Büro Allies & Morrison den Masterplan für das Areal entworfen hat. „Aber wie der Kanal waren auch sie ein Geschenk, denn sie verleihen dem Ort Charakter.“

3. Verkünstle dich nicht.

Morrisons Auftraggeber ist die sogenannte King’s Cross Central Limited Partnership. Die Aufträge für die einzelnen Gebäude wurden an mehr als 30 verschiedene Architekturbüros vergeben. „Niemand durfte mehr als ein oder zwei Gebäude entwerfen“, sagt Morrison, dem man trotz schlohweißer Haare und Ruhestand die Begeisterung für seinen Beruf noch immer anmerkt. „Wir wollten keinen einheitlichen Look. Die Gebäude sollten so unterschiedlich wirken, als wären sie nach und nach entstanden, wie in einem gewachsenen Stadtviertel.“

Man habe bewusst auf Stararchitekten verzichtet – kein Gebäude sollte die anderen in den Schatten stellen. „Für ein funktionierendes Viertel sind die Plätze ohnehin wichtiger als die Gebäude.“ Die meisten Häuser sind klassische Quader. „Das spart immense Summen beim Bau, die dann zum Beispiel in die Gestaltung des öffentlichen Raums gesteckt werden können“, sagt Morrison.

Nicht alle sind begeistert: Die britische Zeitung »The Guardian« bemängelte den „Diktatoren-Chic“ eines Gebäudes. Die inzwischen verstorbene Star-Architektin Zaha Hadid nannte die Bauwerke „langweilig“, ihr Kollege Peter Cook verglich sie mit einem „ordentlichen, aber nicht sehr stilvollen Tweed-Anzug“.

„Ich finde wichtiger, dass Gebäude eine Pflicht gegenüber dem öffentlichen Raum haben“, sagt Morrison. „Sie müssen eine Funktion erfüllen, wie ein Instrument in einem Orchester. Und sie sollen die Menschen ermutigen, sich frei zu bewegen.“

4. Geh mit Einschränkungen kreativ um.

Als ehemalige Güteranlage hatte King’s Cross den Vorteil, dass es nur wenig Bestandsmieterinnen und -mieter gab, die das Bauvorhaben vertrieben hätte. Dennoch konnte wegen des Kanals, den Denkmalschutzauflagen und der Bahntunnel nicht frei drauflosgebaut werden. Die vielleicht größte Einschränkung ist eine uralte Regel im Londoner Baurecht: Die Sicht auf die St. Paul’s Cathedral und den Westminster Palace darf von Gebäuden nicht verdeckt sein. Durch King’s Cross verlaufen zwei solcher Sichtachsen.

Wolkenkratzer kamen deshalb nicht in Frage. Die meisten Gebäude sind nur acht oder zehn Stockwerke hoch, viele der alten Backsteingebäude eher drei oder vier. Nur ein Haus ganz am Rande des Areals hat 27 Etagen: ein Studentenwohnheim, das außerhalb der Sichtkorridore liegt. „Entwickler müssen normalerweise so hoch wie möglich bauen, allein aus finanziellen Überlegungen“, sagt Martha Alker, 44, aus dem Architekturbüro Townshend Landscape Architects. „Mehr Stockwerke bedeuten mehr Wohnungen, mehr Bürofläche, mehr Geld. Aber dann würde es sich anders anfühlen, es wäre nicht derselbe Ort.“

Weiterlesen auf brandeins.de

Text: Christoph Koch

Tags: , ,

About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

Subscribe

If you enjoyed this article, subscribe now to receive more just like it.

Subscribe via RSS Feed

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Top

Entdecke mehr von Christoph Koch

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen