In der neuen Reihe “Mein Medien-Menü” stellen interessante Menschen ihre Lese-, Seh- und Hörgewohnheiten vor. Ihre Lieblingsautoren, die wichtigsten Webseiten, tollsten Magazine, Zeitungen und Radiosendungen – aber auch nützliche Apps und Werkzeuge, um in der immer größeren Menge von Informationen, den Überblick zu behalten und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Jeden Montag also ein neues Medien-Menü – diese Woche mit Kathrin Passig, Bachmannpreisträgerin, Sachbuchautorin und Mitbegründerin der Zentralen Intelligenz Agentur.
Irgendwo im Netz gibt es eine Liste von Symptomen, an denen man Suchtverhalten erkennt, darunter: Wenn du nachts wachliegst oder morgens aufwachst, greifst du als Erstes zu deinem Suchtmittel. Das ist bei mir seit fünfzehn Jahren das Internet, aber ich mache mir deshalb nur überschaubare Sorgen, denn vorher war es auch nicht anders, nur eben mit Papier. Früher habe ich auf dem Klo die Aufschrift auf der Zahnpastatube gelesen und dann die Aufschrift auf der Zahnpastatube rückwärts, was dazu führt, dass ich bis heute dneßeilf sträwkcür nesel nnak, erednosebsni retröW eiw „exalyhporpesotnodaraP“. Ich merke gerade, dass ich schon wieder mehr nachdenken muss dabei, vielleicht bin ich auf dem Weg der Besserung. Seit es mobiles Internet und den Kindle-Reader für Android gibt, ignoriere ich die Zahnpastatube und schaue ins Handy.
Ich besitze keinen E-Reader, ich lese gern auf dem Handy und dem Laptop. Dass Bücher oder Leseproben, die ich am Rechner neu heruntergeladen habe, ganz von allein auf dem Handy auftauchen, und dass die beiden Geräte sich über die zuletzt gelesene Stelle verständigen, erfreut mich nachhaltig. So muss es den Leuten kurz nach der Einführung des elektrischen Lichts gegangen sein, vermutlich haben sie täglich ein paar Minuten lang nur das Licht ein- und wieder ausgeschaltet.
Die zu Ende gelesenen Bücher der letzten Jahre notiere ich bei Goodreads – ab Anfang 2009 sind das zuverlässige Daten, alles, was vorher kommt, musste ich aus meinen Amazon-Bestellungen rekonstruieren. Goodreads ist nicht besonders überzeugend, ich kenne nur wenige Menschen, die es nutzen, und die Buchempfehlungen dort sind nur unwesentlich besser als bei Amazon. Aber ich finde es sehr hilfreich, um eine realistische Vorstellung von meinem Leseverhalten zu bekommen. Bis ich damit anfing, hielt ich mich immer noch für denselben Leser wie 1995. Dass ich in den letzten zehn Jahren nur wenige hundert Bücher gelesen habe, finde ich immer noch schwer zu glauben. Ohne ein solches Aufzeichnungstool wüsste ich auch nicht, dass ich in den letzten paar Monaten mehr Fiktion gelesen habe als davor in vielen Jahren. (Wie es zu diesem Fiktionsflash kam, bleibt aber unklar, geistige Trägheit, Eskapismus, was mit Hormonen?) Was mir noch ein bisschen fehlt, ist ein Aufzeichnungsformat für angefangene und nicht weitergelesene Bücher, zum Beispiel Kindle-Leseproben.
Meine Papierbücher habe ich in den letzten paar Jahren mit Hilfe des Berliner Büchertischs stark reduziert, von ungefähr zwölf mehrreihig gefüllten Billyregalen bin ich jetzt runter auf sieben halbvolle. Ungefähr eines davon enthält die Bücher aus den letzten Jahren, die ich behalten möchte (wobei ich sie sofort eintauschen würde gegen E-Book-Versionen; ich will sie nur kein zweites Mal kaufen), die anderen enthalten Bücher, die ich zwar eigentlich nicht behalten will, aber aus verschiedenen Gründen auch noch nicht weggeben kann. Das ist nicht so einfach – verschenkt man sie im Freundeskreis, melden sich sofort die anderen Bücherhorter, die sie einfach nur so aus Prinzip besitzen wollen, man bürdet das gerade überwundene Problem also nur jemand anderem auf. Und was macht man mit Geschenken und signierten Büchern? Ich habe dafür noch keine Lösung.
Im Netz habe ich um 2005 herum eine Weile meinen RSS-Feedreader vollständig ignoriert: Ich war einfach überfordert von der Menge an ungelesenem Zeug, die sich da zügig ansammelte und mich vorwurfsvoll anstarrte. Irgendwann gewöhnte ich mich an diese Überfülle, dabei halfen paradoxerweise Angebote wie alltop.com, bei denen es offenkundig keine Chance gibt, sie je leerzulesen. Seitdem geht es wieder, und das, was ich im Netz lese, speist sich jetzt ungefähr (geraten und nicht gemessen, kann also auch ganz anders sein) zur Hälfte aus dem Feedreader und zur Hälfte aus dem Bekanntenkreis via Google+, Twitter und Facebook. Ein oder zwei Jahre lang hatte ich mir für die wichtigsten Feeds eine Weiterleitung nach Twitter gebastelt (via Yahoo Pipes und Twitterfeed), aber seit es Google+ gibt, nutze ich Twitter viel weniger und sehe deshalb auch diese Weiterleitung kaum mehr. Ich habe im Feedreader eine Abteilung „Shortlist“, die ich immer zu lesen versuche, aber eigentlich klappt auch das nicht, und in die Feeds, die nicht in dieser Rubrik wohnen, schaue ich nur alle paar Monate mal rein. Innerhalb dieser Shortlist gibt es so was wie die echte Shortlist, in der ich immer alles ziemlich bald nach Erscheinen lese, aber auch die ist noch zu lang, um sie hier aufzulisten, und man kann seinen Google-Reader-Inhalt offenbar noch nicht einfach öffentlich freischalten. Highlights: Stefan Niggemeiers Blog, Marginal Revolution, Less Wrong, Overcoming Bias, Penelope Trunk, O’Reilly Radar. Nachrichtenseiten im Netz besuche ich nur, wenn gerade irgendwo ein Vulkan oder ein Krieg ausbricht.
Ich bekomme mehrere Zeitschriften mit der Post, die zu Vereinsmitgliedschaften gehören (Alpenverein, ADFC, Amnesty). Das Amnestyheft werfe ich ungeöffnet weg, weil ich es nur als Pornografie lesen kann, das ist aber selbst mir zu zynisch. Die anderen beiden lese ich wenigstens teilweise. Ich bekomme die c’t gratis, lese aber eigentlich schon seit ein paar Jahren nur noch wenige Seiten darin. Ich habe es bisher nicht übers Herz gebracht, sie abzubestellen, denn wenn Leser anfangen, ihre Gratisabos zu kündigen, dann weinen die Redakteure dieser guten, klugen Zeitschrift. Aber jetzt steht es hier schon, ich überwinde mich gleich mal und maile ihnen, es hilft ja nichts. Ich habe ein „Harper’s Magazine„-Abo, denn das ist erfreulich billig (40 US$ im Jahr), es stehen interessante Sachen drin und man bekommt Zugang zum gesamten Onlinearchiv bis 1850. Ich fürchte aber, realistisch betrachtet lese ich auch in den Heften nicht mehr als zehn Prozent – früher habe ich sie immer auf Reisen mitgenommen, aber seit ich unterwegs E-Books lesen kann, ist diese Papierlesenische verschwunden (zur gleichen Zeit haben auch meine sporadischen Zeitschriftenkäufe in Bahnhofsbuchhandlungen aufgehört). Es ist jedenfalls sehr angenehm, gelesene Hefte dank Onlinearchiv ohne Zögern zum Altpapier geben zu können.
Radio habe ich seit den 80er Jahren nicht mehr gehört (traumatische Schulbus-Erlebnisse mit Bayern 3). Eine Tageszeitung hatte ich zuletzt um 1990 im Abonnement. Ich habe aufgehört, fernzusehen, als im deutschen Kabel das britische MTV Europe durch den deutschen Ableger ersetzt wurde, das muss so um 1995 herum gewesen sein. Über Hörbücher und Podcasts weiß ich nichts, ich schlafe aus technischen Gründen beim Zuhören immer sofort ein.
Kathrin Passig lebt in Berlin von ihrer automatischen Shirtmaschine und dem Schreiben von Sachbüchern. Zuletzt erschien „Das neue Lexikon des Unwissens“ im Rowohlt Berlin Verlag (zusammen mit Aleks Scholz und Kai Schreiber), im Herbst 2012 erscheint „Internet – Segen oder Fluch“ (Arbeitstitel, zusammen mit Sascha Lobo). Mehr unter kathrin.passig.de
Text: Kathrin Passig
Foto: Jan Bölsche
Wer auch zukünftige Folgen von „Mein Medien-Menü“ nicht verpassen will, sollte den RSS-Feed abonnieren oder mir auf Twitter folgen.
Vielen Dank an „The Atlantic Wire“ für das wundervolle Format (dort heißt es „What I Read“). Wer Vorschläge hat, wer in dieser wöchentlichen Rubrik auch einmal zu Wort kommen und seine Lieblingsmedien vorstellen und empfehlen sollte, kann mir gerne schreiben.
Disclosure: Mit vielen der Menschen, die hier in „Was ich lese“ ihre Mediengewohnheiten vorstellen (werden), bin ich befreundet oder zumindest leidlich bekannt.
Schöner Artikel.
Das mit den US-Zeitschriften kann ich bestätigen. Ich war mal zwei Jahre lang Abonnent des New Yorker, weil es eben erstaunlich günstig ist, man muss nur damit klar kommen, dass die Hefte mit Verspätung eintrudeln und gerne auch mal einen Monat lang gar nicht und dann vier auf einmal. Gelesen hab ich allerdings in gefühlten zehn Ausgaben mal irgendwas, deswegen hab ich’s dann doch aufgegeben. Die Frequenz und Länge der Artikel war wohl doch überfordernd.
*schluchz*
Diese Serie ist öde.
Goodreads, Criticker, imdb, Last.fm… die großen Empfehlungs- und Bewertungs-Netzwerke für Bücher, Filme, Musik usw., machen mich irrsinnig glücklich.
http://stefanmesch.wordpress.com/2011/11/16/futter-fur-die-bestie-essay-bella-triste-31-2011/
Ich wünschte, Kathrin Passig würde (noch-)mal länger drüber schreiben, *WARUM* diese Netzwerke für sie flach fallen.
Zu spät gesehen, dass es hier mehrere Reply-Optionen gibt, die Antwort hierzu steht also unter dem Kommentar von Oliver Gassner, tut mir leid.
Man kann Labewls imn reader als Blogroll oder Ticker freigeben. Sogar als Widget ;)
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Haken an Folder
oben (konnte man es pubnlic schalten, dann hatte man diverse Optionen des Publshing … ;( )
oops, das haben sie abgestellt, sehr ärgerlich, früher ging das ;(
Stefan Mesch, die fallen doch gar nicht flach für mich, ich finde criticker, imdb, last.fm auch sehr toll und habe das auch schon mehrfach geschrieben.