Globalisierung: Isch over?

Written by on 03/03/2023 in brand eins with 0 Comments

Douglas Irwin ist Experte für die Geschichte des globalen Handels. Ein Gespräch über die Kräfte, die die Weltwirtschaft auseinandertreiben, aktuelle Risiken und Chinas zukünftige Rolle. Er sagt: „Wir werden noch wehmütig auf die Phase des nahezu komplett globalisierten Welthandels zurückblicken“

brand eins: Herr Irwin, die Globalisierung ist ein Jahrhunderte währender Prozess – wie ist das, was wir heute als Globalisierung kennen, überhaupt entstanden?

Douglas Irwin: Vom Zweiten Weltkrieg bis weit in die Achtzigerjahre hinein teilte sich die globale Wirtschaft in drei Welten, die auch so genannt wurden: Die Erste Welt umfasste vor allem die USA, Australien, Japan und Westeuropa. Die UdSSR, das kommunistische Osteuropa und China bildeten den Kern der sogenannten Zweiten Welt. Und die Dritte Welt bestand aus den Ländern Lateinamerikas, Südostasiens und Afrikas, die keinem der beiden politischen Blöcke angehörten. Diese drei Welten hatten zwar jeweils ihre eigenen Wirtschaftsgemeinschaften – OECD und EWG im Westen, Comecon im Osten – aber untereinander waren sie nicht vernetzt. Die verschiedenen Weltgegenden waren längst nicht so verknüpft, wie wir es heute kennen.

Wann änderte sich das?

Wenn man eine Jahreszahl draufkleben müsste, dann wäre es 1989, als die Mauer fiel. Die Sowjetunion implodierte, Osteuropa orientierte sich nach Westen. China hatte schon etwas früher begonnen, sich zu öffnen, aber jetzt gab es kein Halten mehr. Auch die Dritte Welt entschied sich zunehmend für eine marktorientierte Wirtschaftspolitik. Und so entstand in den Neunzigerjahren zum ersten Mal eine echte Weltwirtschaft. Niemand wollte mehr isoliert sein. So gut wie alle wirtschaftlich bedeutenden Länder traten der Welthandelsorganisation (WTO) bei. So begann eine einzigartige Ära der Wirtschaftsgeschichte.

Sie beschreiben die Globalisierung oft als Wechselspiel zwischen Zentrifugal- und Zentripetalkräften. Wie meinen Sie das?

Eine Zentrifugal- oder Fliehkraft bewegt etwas nach außen. In unserem Fall sorgt sie dafür, dass sich die Länder wirtschaftlich weiter voneinander entfernen. Zentripetalkräfte hingegen bringen Volkswirtschaften näher zusammen. In der Geschichte der Wirtschaft wirken diese Kräfte in verschiedenen Phasen unterschiedlich stark.

Wie sah das zur Blüte der Globalisierung in den Neunzigerjahren aus?

Es geht fast immer um drei wichtige Faktoren: Technologie, politische Abkommen und Geopolitik. Technologie wirkt im Grunde immer zentripetal und bringt die Welt näher zusammen. Im 20. Jahrhundert waren das vor allem Dinge wie Luftfahrt, das Aufkommen von Containern in der Frachtschifffahrt (siehe auch brand eins 11/2021: „Boxenstopp“) und später das Internet. All diese Entwicklungen haben die Kosten für internationalen Handel drastisch reduziert. Vor dem Fall der Mauer wirkten aber die beiden anderen Kräfte zentrifugal: Es gab keine weltumspannenden Handelsabkommen, und der Kalte Krieg verhinderte jahrzehntelang geopolitisch einen globalen Handel. In den Neunzigerjahren wirkten plötzlich alle drei Faktoren in die gleiche Richtung, nämlich zentripetal.

Wie lange hielt diese Phase an?

Auch hier ist es schwierig, eine präzise Jahreszahl zu nennen, aber ich würde sagen bis zur Finanzkrise von 2008 und 2009. Seitdem sehen wir eine langsame Erosion der Globalisierung. Vor allem die Geopolitik hat sich wieder zur Zentrifugalkraft entwickelt: Sowohl Chinas Staatspräsident Xi als auch Russlands Präsident Putin wollen nicht mehr um jeden Preis mit dem Westen Handel treiben und sorgen im Rest der Welt für viel Misstrauen und Vorsicht. Hinzu kommen weltweit stärkere Bedenken in Sachen nationaler Sicherheit. Das war beispielsweise zu sehen, als viele westliche Nationen die chinesische Firma Huawei vom Ausbau der 5G-Netze ausschlossen. In der Blütezeit der Globalisierung überwogen dagegen die Vorteile des grenzenlosen Handels fast immer die Bedenken zur nationalen Sicherheit.

Die wahre Krise der Globalisierung begann also schon weit vor der Corona-Pandemie?

In der Tat. Aber die Pandemie hat ebenfalls als Zentrifugalkraft gewirkt. Viele Nationen fragten sich, wie stark sie in einem solchen globalen Notfall von anderen Ländern abhängig sein wollen. Die Angst, von lebenswichtigen Gütern abgeschnitten zu sein, griff nach langer Zeit plötzlich wieder um sich. Auch bei den Impfstoffen wollten Regierungen erst einmal die Versorgung ihrer eigenen Bevölkerung sicherstellen.

Aber gab es nicht zwischen den Industrienationen auch internationale Kooperationen bei der Impfstoffentwicklung?

Im privaten Sektor sahen wir tatsächlich sehr viel Kooperation. Labore und Pharmaunternehmen in der ganzen Welt arbeiteten zusammen, um möglichst schnell eine Antwort auf das Virus zu finden. Aber die Politiker haben meiner Ansicht nach die Vorteile einer solchen Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung nicht verstanden, sondern achteten vor allem darauf, selbst auf keinen Fall zu kurz zu kommen.

Spätestens seit dem Krieg in der Ukraine wird vielerorts das Ende der Globalisierung beschworen. Zu Recht?

Von einem Ende der Globalisierung zu sprechen halte ich für stark übertrieben. Der Welthandel ist inzwischen so stark vernetzt, das kann selbst eine Pandemie oder ein Krieg nicht mal eben so auflösen. Aber die Entwicklung, die wir seit der Wirtschaftskrise sehen, geht weiter – und ich sehe derzeit nichts, was der Globalisierung wieder einen massiven Schub geben könnte.

Was sind die Gründe dafür?

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Text: Christoph Koch
Foto: Kyle Ryan auf Unsplash

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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