Michael Seemann: Mein Medien-Menü (Folge 21)

Written by on 30/07/2012 in Was ich lese with 5 Comments

In der Reihe “Mein Medien-Menü” stellen interessante Menschen ihre Lese-,  Seh- und Hörgewohnheiten vor. Ihre Lieblingsautoren, die wichtigsten Webseiten, tollsten Magazine, Zeitungen und Radiosendungen – aber auch nützliche Apps und Werkzeuge, um in der immer größeren Menge von Informationen, den Überblick zu behalten und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Jeden Montag also ein neues Medien-Menü. Diese Woche: der Blogger und Podcaster Michael Seemann.


Mein Medien-Menü ist im stetigen Wandel. Ich hab gerade zum Beispiel gar keine Lust da eine große Kontrolle drauf auszuüben, sondern lasse mich treiben. Ausgangspunkt dieses Schwebezustandes sind meist Links auf Twitter oder Facebook.

Ich habe sehr lange am RSS-Reader gehangen, aber irgendwie bekam ich das am Ende nicht mehr gemanagt. Ich glaube, RSS-Reader sind prima, wenn man jeden Tag ne halbe bis ne Stunde dafür einrechnet. Dafür braucht man aber ein Mindestmaß an Stetigkeit im Lebenswandel, den ich derzeit außer Stande bin, aufzubringen. Am Ende jedenfalls hatte +10.000 ungelesene Items und irgendwas in meiner Psyche lässt diese Zahl erschaudern vor schlechtem Gewissen. Ich hab so eine Zero-Items-Schwäche. Ich kann es nicht haben, wenn Mails, Reader oder sonstige Apps irgendwelche Zahlen anzeigen. In Rot! Mein Reader, da bin ich ganz sicher, hat ein sehr schlechtes Bild von mir. Ich lass ihn lieber zu.

Mit dem Reader hab früher viele Blogs gelesen. Und auf einige surf ich hier und da noch drauf und manche geraten regelmäßig auch über Twitter immer wieder in meinen Fokus. Carta zum Beispiel, bei dem ich mich aufrichtig freue, dass es dort nach Robin Meyer-Luchts Tod weitergeht. Felix Schwenzels wirres.net war eines der ersten Blogs überhaupt, die ich las und er hat in all der Zeit einen konstant prima Job gemacht. Er ist für mich der Prototyp des Bloggers: immer interessant, reflektiert, subjektiv, menschlich und gerade heraus. Das Blog von Marcel Weiss, „Neunetz„, ist neben Netzwertig meine Primärquelle für alles, was in der Techwelt abgeht. Er bringt nicht nur News, sondern immer auch kluge Analyse. Pro2Koll ist neben dem Boschblog das, was aus meinem Feedreader aus der Kategorie „persönliche Betrachtungen des Alltags mit literarischen Note“ übrig geblieben ist. Blogs, die einem den Tag machen. Ich mag immer mal wieder einige Texte auf Deus Ex Machina, vor allem die von Teresa Bücker. Klar, an Niggemeier kommt eh keiner vorbei, die Spackeria hat immer wieder überraschende Betrachtungen zu Datenschutz und Internet auf Lager, Antje Schrupp schreibt in etwa die klügsten Texte der Welt und hier und da haut hackr.de einen Text raus, der einen umhaut und wenn man wieder aufwacht, hat man die Welt und das Internet ein Stück weit besser verstanden. Ich bin ein großer Fan von Kevin Kelly und sein Buch „What Technology wants“ hat meinen Blick auf Technologie verändert und das zugehörige Blog The Technium tut es weiterhin regelmäßig.
Der beste Erklärbär für Technologiefragen in deutscher Sprache ist übrigens immer noch Kristian Köhntopp. Eine andere Erklärbärin ist selbst noch nicht ganz so weit, arbeitet aber dran: Fiona hat sich durch die Grundlagen von Assembler gekämpft und beginnt gerade in C zu schwimmen. Ihre Fortschritte dokumentiert sie auf sehr unterhaltsame und charmante Weise in ihrem Blog fionalerntprogrammieren. All das und vieles mehr hatte ich in meinem Feedreader, den ich so lange nicht geöffnet habe. Ach.

Jetzt also vor allem Twitter. Da kommt auch so schon ne Menge rein. Es ist keinesfalls so, dass ich alles anklicke, aber aus irgendeinem Grund habe ich hier kein schlechtes Gewissen, wenn ich da was verpasse. Twitter ist in dieser Hinsicht wie Fernsehen, da rauschen auch dauernd Informationen durch und drohen mir nicht mit irgendwelchen roten Zahlen.

Ich folge sehr unterschiedlichen Menschen. Den Lustigen, den Charmanten, den Informierten, den Bedachten, den Politischen. Sie sind es, die mir mein tägliches Medienmenü aufbereiten. Klar, da ist viel Politik dabei, vor allem Netzpolitisches. Datenschutz, Urheberrecht, ACTA usw. Ich behaupte, dass mir durch Twitter in diesen Kernbereichen definitiv keine wichtige Entwicklung entgeht. ich könnte hier ein paar Twitteraccounts aufführen, aber das würde nur ein schiefes Bild abgeben. Ist ja eh öffentlich wem ich folge.

Mein Browser hat mir sehr lange als Leserampe gedient. Klickte ich einen interessanten Link, dann verblieb der Text im eigenen Tab, bis ich die Zeit fand ihn zu lesen. Meistens also gar nicht. Aber hier gibt es eine neue Entwicklung. Ich habe seit neustem einen Kindle. Also speichere ich alles noch zu Lesende auf Instapaper, das sich dann automatisch mit dem Kindle synct. Auf dem Gerät lässt sich Text eh viel besser konsumieren, als am Monitor.

Zeitungen und Zeitschriften kaufe ich eigentlich nie. Als Student dachte ich mal über ein Zeitungsabo nach. Damals kaufte ich mir auch noch Zeitschriften. C’t und die Titanic, sowas. Was mich vom Zeitungsabo abschreckte, waren nicht die Gebühren, sondern das Papier, das sich bei mir sicher bin unter die Decke angestapelt hätte und spätestens beim Umzug in Lastwagen hätte entsorgt werden müssen. Das war etwa 2000, wo ich noch vergleichsweise wenig im Internet las. Heute kommt mir die Idee eines Zeitungsabonnements schlicht absurd vor. Papier ist für mich kein Thema mehr.

Oder nee, halt! Ich lese Bücher. Ich habe viele Bücher, mein Zimmer besteht förmlich aus Büchern. Der Versuch, mein Leben mit möglichst wenigen Gegenständen zu organisieren, scheiterte bislang regelmäßig genau hier. Schon in der Uni reichte es mir nicht, Bücher auszuleihen. Wenn ich nur etwas an dem Thema interessiert war, habe ich mir die Bücher dazu gekauft. Wenn ich etwas lese, dann indiziert mein Hirn die Information. Wenn ich das Buch danach wieder weggebe, habe ich einen Index, der in’s Leere zeigt. Nullpointerexception! Einmal gelesene Bücher werden Teil des Bewusstseins, sie sollten also so nah wie möglich griffbereit sein.

Dennoch bin ich etwas unglücklich mit meiner Bibliothek. Ich trau mich kaum umzuziehen, weil ich den ganzen Kram dann wieder rumschleppen muss. Ich bin für eine Digitale Bücheramnestie. Ich gebe alle meine Bücher gerne im Austausch für ihr digitalisiertes Äquivalent her. Ich brauche das tote Holz nicht bei mir rumstehen, Onlinezugang würde mir reichen. Überhaupt: Warum noch mal sind nicht alle Bücher der Welt bei Google Books oder ähnlichen Diensten? Ach ja, Urheberrecht. Über 90% des Weltwissens steht in den Büchern, aber wir kommen da nur unter Schmerzen ran. Die Welt verwandelt sich in ein riesiges Gehirn und die Menschenheit fügt ihm ohne Not ein Handicap zu. Das Urheberrecht ist nichts als die willentliche geistige Behinderung des Weltgeistes.

Ich hoffe, ich werde viel auf dem Kindle lesen. Ich habe bereits einige Bücher auf meinem iPhone gelesen und ich kann mir vorstellen, dass ich ab nun Bücher nur noch digital konsumieren werde. (Für noch mehr Papierbücher hab ich eh keinen Platz mehr.) Inhaltlich lese fast nur Sachbücher. Ich habe viele Bücher über Philosophie, Kulturtheorie und Technologie im Schrank. Meine Themen, halt. Hier und da lese ich mal einen Science Fiction Roman, obwohl die meistens ganz gut in mein Diskursspektrum passen und mich auch inhaltlich weiterbringen, zumindest mit Ideen versorgen. Ich gestehe: Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich Belletristik lese. Ich könnte in der Zeit ja „wichtige“ Information aufnehmen. Ich weiß, dass das Quatsch ist. Auch so ein Tick von mir.

Um mich in etwa über das Weltgeschehen Laufen zu halten, lese ich Spiegel Online. Ja, ich weiß. Alle kotzen über SpOn. Ich mag es, nach wie vor. Man merkt denen an, dass da richtiger Journalismus passiert. Echte Menschen bearbeiten eigenständig Themen. Bei den meisten anderen Newssites läuft nur der Ticker durch, angereichert mit ein paar Zweitverwertungen. Man kann sich über die Boulevardisierung von SpOn sicher beschweren. Ich tu es nicht. Den Gossip lese ich eh nicht und meist reicht es mir, die Überschriften zu scannen. Ergänzend gebe ich mir immer wieder auch Zeit Online. Weniger News, mehr Debatte. Die guten Artikel auf allen anderen Plattformen, bekommt man meist sowieso mit.

Wobei es da solche und solche Phasen gibt. Es gab Zeiten, in denen ich jeden Tag 8 Newsseiten parallel las und jeden Artikel anklickte. Zuletzt 2008 zu Beginn der Finanzkrise. Man kann da richtig „drauf“ kommen, wie ein Junkie. Man kann sich aber auch komplett entwöhnen. Im Grunde sind die Geschehnisse in der Welt auch nicht anderes als die Handlungsstränge einer Soap-Opera. Man kann da schnell reingesogen werden, aber wenn man ein paar Folgen verpasst, ist man auch schnell wieder raus. Nach dem Ereignisfeuerwerk 2011 sind die die Drehbuchschreiber dieses Jahr wohl im Streik. Jedenfalls langweilt mich das Weltgeschehen so sehr wie selten. Letztens hab ich festgestellt, dass ich seit einer Woche keine News gecheckt hatte. Naja, und nun ist auch noch Sommerloch.

Was ich seit einigen Jahren viel lieber und stringenter mache als lesen, ist Podcasts hören. Das passt sich so prima in meine Lebengestaltung ein. All diese Phasen, wo man etwas tut – tun muss – ohne dabei den Kopf auszulasten: Aufräumen, Abwaschen, Fahrradfahren, Joggen – bei all diesen Tätigkeiten höre ich Podcasts. Podcasts haben etwas sehr angenehmes. In so einem lockeren Gespräch verwischt immer wieder die Grenze zwischen persönlichem Gespräch, dem Aufbereiten von Sachthemen und Show und Unterhaltung. Da existiert nicht mal mehr ein Schalter, das ist alles eins. Vermutlich weil es so ungefiltert ist, assoziativ, Stream of Consciousness. Wie Menschen eben so sind, wenn man sie trifft und mit ihnen ein Bier trinkt. Wahrscheinlich ist der Bezug zum Hörer deswegen auch ein anderer, als der Bezug zum Leser. Wen man in seine Ohrmuschel lässt, ist einem näher und um so persönlicher ist das Verhältnis.

Ich höre einige Podcasts. Natürlich einiges von Tim Pritloves Meta Ebene Produktion: den klugen CRE, das aktuelle Logbuch Netzpolitik und MobileMacs – mein einziger Apple-Podcast (u.a. mit meinem Podcastkollegen Max Winde). Außerdem die Wikigeeks aus Göttingen, den Klassiker von Leo Laporte „This Week in Tech„, „Freakonomics Radio“ und noch ein paar Englischsprachige. Ach ja, und „Alternativlos“ von Frank und Fefe. Obwohl ich mich da oft drüber beschwere, hab ich da viel draus gelernt und werde meist gut unterhalten. Aus dem öffentlich rechtlichen Bereich kann ich das „Das philosophische Radio“ von WDR5 und „das ARD Radiofeature“ empfehlen. Eine zeitlang hörte ich jeden Tag „HR2 Der Tag“, aber ich finde, die haben ziemlich nachgelassen. Sehr unterhaltsam ist übrigens noch Marc Marons WTF, selbst amerikanischer StandUp-Komiker, der jede Woche andere StandUp-Komiker interviewt.

Ich habe seit bestimmt 12 Jahren keinen Fernseher mehr. Es war mitten im Studium, als ich merkte, wie ekelhaft das Gefühl im Hirn ist, wenn ich mich mal wieder durch die Vormittagstalkshows verprokrastiniert hatte. Prokrastination selbst war nicht der Punkt, sondern das was Oliver Kalkofe “getötete Lebenszeit“ nennt. Man kommt sich regelrecht „vermüllt“ vor. Nach drei Stunden Fernsehen fühlt sich der Kopf an, wie der Magen nach einem Besuch bei McDonalds. Fernsehen ist die niederste Form der Informationsaufnahme, dementsprechend widerlich sind die Inhalte. Klar, gibt es hier und da auch die Perlen. Aber die bekommt man auch über das Internet.

Ich gucke zum Beispiel Serien, wie wohl die meisten von uns. Allerdings über das Internet und nicht sonderlich exzessiv. Ich habe meist ein schlechtes Durchhaltevermögen. True Blood, Mad Men, The Wire, alles spätestens in der zweiten Staffel abgebrochen. Lost habe ich durchgeguckt, war aber zunehmend genervt, vor allem vom Ende. Wirklich gefangen genommen hat mich Breaking Bad. Ich hab noch Sherlock, Games of Thrones und The Walking Dead soweit durch und warte wie alle anderen auf die nächste Staffel, aber mindestens bei den letzten beiden bin ich auch schon zusehends genervt und gelangweilt. Von The Newsroom habe ich die erste Folge gesehen und fühlte mich wie ein Fremder, der in einen häußlichen Familienstreit geraten ist. Das, was da verhandelt wird, sind inneramerikanische Kulturkonflikte, eine Nation auf der Suche nach sich selbst und – klar – auf sehr amerikanische Art. Ist nix für mich.

Zu meinem Medienkonsum gehören auch ein paar Nischenangebote. Kennt noch jemand IRC? Manchmal hänge ich im IRC-Chat #nodrama.de auf irc.freenode.net rum. Da sind so illustre Gestalten wie @Plomlompom, Erlehmann, @Zeitrafferin und @johl unterwegs. Das ist eine bisweilen schwer aushaltbare, weil hochreaktive Mischung von Quergeistern. Ersterer, Christian Heller aka @plomlompom betreibt außerdem ein Wiki, wo er alles mögliche reinschreibt: Seine Ausgaben, sein Tagesablauf, hier und da Texte. Am wertvollsten sind aber seine Lektürenotizen. Er fasst alle Bücher, die er liest, minutiös zusammen, was, wie ich finde, ein ganz großartiger Dienst an der Menschheit ist.

Im oben genannten IRC Kanal wird häufig Krautchan verlinkt. Das ist ein schlimm anarchistisches Imageboard, eine deutsche Version von 4chan. Bei all dem Getrolle und den pupertierenden Tabubrüchen hält man es dort nicht lange aus. Aber wie auf 4chan, kann man dort Memen beim entstehen zu gucken, wenn man Glück hat.

Aber wie gesagt, bei mit hat das Medienmenü viel mit Lust und Ritualen zu tun, mit Phasen und kommenden, gehenden und wiederkehrenden Interessen. Alles ist im Fluss, die Informationen sowieso, die Medien in ihrem steten Wandel und meine Medienkonsumgewohnheiten. Dieser Text hätte vor einem halben Jahr völlig anders ausgesehen und wird in einem weiteren nicht mehr aktuell sein. Und ich glaube nicht, dass sich das irgendwann wieder verstetigt.

Text: Michael Seemann; Foto: bosch

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Vielen Dank an “The Atlantic Wire” für das wundervolle Format (dort heißt es “What I Read”). Wer Vorschläge hat, wer in dieser wöchentlichen Rubrik auch einmal zu Wort kommen und seine Lieblingsmedien vorstellen und empfehlen sollte, kann mir gerne schreiben.

Disclosure: Mit vielen der Menschen, die hier in “Was ich lese” ihre Mediengewohnheiten vorstellen, bin ich befreundet oder zumindest leidlich bekannt.

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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  1. Stefan sagt:

    Die Zero-Items-Schwäche, ich wusste doch immer, dass ich nicht der einzige bin, der darunter leidet.

  2. Uli sagt:

    Interessieren würde mich ja noch ob die Serien die man „über das Internet kuckt“, gekauft oder runtergeladen wurden. Nicht wegen dem moralischen Zeigefinger, sondern weil das Nichtvorhandensein legaler Angebot ein echtes Problem ist:
    http://www.spiegel.de/netzwelt/web/game-of-thrones-got-stellt-wohl-download-rekord-auf-a-833014.html

  3. mspro sagt:

    Uli, anhand der Serien-Auswahl und der Verfügbarkeit käuflicher Angebote kannst du dir die Frage auch selbst beantworten. ;)

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