„Wir sind alle ein bisschen wie Homer Simpson“: Verhaltensforscher Richard Thaler erklärt, wie wir bessere Entscheidungen treffen

Written by on 03/03/2009 in Neon with 0 Comments

Warum fallen uns ENTSCHEIDUNGEN so schwer? Und warum entscheiden wir so oft falsch? Der US-amerikanische Verhaltensforscher Richard Thaler erklärt unseren Wankelmut und spendet Trost: Dass wir uns mit klaren Ansagen so schwertun, ist nicht allein unsere Schuld.

Auf dem Weg hierher habe ich einen Kaffee gekauft. Schon die kleinste Bechergröße hieß »tall«, schien mir ein guter Deal: wenig bezahlen, was Großes bekommen. In Ihrem Buch »Nudge« – was so viel heißt wie »Stupser« – beschreiben Sie, dass wir mit genau solchen Tricks zu Handlungen oder Produkten gestupst werden.

Wenn wir uns also ausnahmsweise mal für etwas entscheiden, ist es gar nicht unsere eigene Entscheidung – wir wurden »gestupst«? Oft ist das so, ja. Aber gegen solche Stupser kann man auch immun werden. Irgendwann erscheint Ihnen der Kaffee klein, auch wenn er »tall« heißt – denn Sie sehen immer mehr Menschen mit größeren Kaffeebechern herum laufen. Die kleinsten Eier, die man in USSupermärkten kaufen kann, tragen die Bezeichnung »groß«. Trotzdem würde jeder Mensch sie als »eher klein« bezeichnen. Was einmal als »Nudge« funktioniert hat, muss nicht auf ewig effektiv bleiben.

Leider noch nicht auf deutsch erschienen: "Nudge"

Wie oft werde ich in einem gewöhnlichen Supermarkt gestupst – und vor allem: Wie?

Abgesehen von rowdyhaften Kunden? Oh, der Supermarkt ist voller »Nudges«. Ein wichtiger Faktor ist die Platzierung der Produkte. Firmen bezahlen dafür, dass ihre Waren auf Augenhöhe oder an besonders auffälligen Stellen platziert werden. Der Laden wiederum stupst uns dadurch, dass unser Weg durch den Markt genau vorgeplant ist – damit wir auf jeden Fall an Produkten vorbeikommen, die uns in Versuchung führen und hohe Gewinnspannen versprechen.

Sie weisen immer wieder darauf hin, dass wir Menschen schlecht darin sind, Entscheidungen zu treffen. Entschuldigung, aber: Das ist doch nichts Neues.

Der Gedanke, dass Menschen schlechte Entscheidungen treffen, ist weder neu noch sehr überraschend. Jeder hat schon mehrmals in seinem Leben richtig danebengegriffen. Die Neuigkeit: Wirtschaftswissenschaftler und Politiker sind interessanterweise immer von dem genauen Gegenteil ausgegangen – dass Menschen rationale Entscheidungen treffen, die ihrem Wohl dienen. Das führt dazu, dass Politik so gestaltet wird, dass sie für Genies mit perfekter Selbstkontrolle perfekt funktioniert. Für uns normale Menschen funktioniert sie allerdings weniger gut – denn wir handeln eben nicht immer logisch. Oder haben Sie etwa Ihre Altersvorsorge schon perfekt organisiert?

Ähm … nein. Sie behaupten, wir seien alle ein bisschen zu sehr wie Homer Simpson.

Genau. Deshalb haben wir Homer in unserem Buch auch zu so etwas wie unserem Maskottchen gemacht. Er hält niemals inne und denkt nie nach – genau wie wir manchmal. Am liebsten mag ich die Szene, in der er sich eine Pistole kaufen will, um sich an jemandem zu rächen. Als ihm gesagt wird, dass es beim Waffenkauf eine vorgeschriebene Wartefrist von drei Tagen gibt, antwortet er: »Drei Tage? Aber ich bin doch jetzt wütend!« Genau wie Homer entscheiden wir uns sehr oft für das, was schlecht für uns ist: Fastfood, Ratenkauf, zu teurer Urlaub.

Warum sind wir nicht besser darin, Entscheidungen zu treffen?

Wir geben unser Bestes. Aber bedenken Sie, womit wir es zu tun haben! Das menschliche Gehirn ist ein großartiges Organ, aber es rechnet nicht so präzise wie ein Computer, weil wir oft abgelenkt und sehr leicht verführbar sind. Das macht uns menschlich. Deshalb liegen wir oft falsch, vor allem bei komplexen Entscheidungen.Und es liegt in der Natur der Sache, dass die wichtigsten Entscheidungen – zum Beispiel, einen Partner zu wählen, ein Haus zu kaufen, einen Beruf zu finden, für die Rente zu sparen – sowohl komplex sind als auch selten.Wir haben also keine Gelegenheit, unsere Entscheidungen durch einen Lernprozess zu verbessern.Bei unserer Altersvorsorge haben wir nur einen einzigen Versuch. Bei der Ehe vielleicht zwei oder drei …

In welchen Bereichen wird unser innerer Homer Simpson am meisten ausgenutzt?

Zum Beispiel bei Kreditkarten. Sie sind inzwischen nahezu unverzichtbar geworden, auf Reisen kommt man kaum ohne sie aus. Wenn sie nur eine Art neue Währung darstellen würden, wäre das ja kein Problem. Aber ihre Bequemlichkeit bringt auch große Versuchungen mit sich: Viele Haushalte haben riesige Schulden bei ihren Kreditkartenfirmen – und das meist zu horrenden Zinsen. Kreditkartenfirmen wiederum verstärken dieses Problem, indem sie ihre Kunden dahin stupsen, ihre Schulden möglichst langsam abzubezahlen. Auf vielen Kartenabrechungen ist die Zahl, die am größten gedruckt ist, das Rückzahlungsminimum. Wer jedoch nur das Minimum zurückzahlt, schiebt seine Schulden auf ewig vor sich her.

Ihre »Nudge«-Theorie sagt, dass wir einerseits ständig manipuliert werden und andererseits selbst nicht die nötige Energie oder Rationalität aufbringen, die bestmögliche Wahl zu treffen.Aber macht es uns das Internet nicht leicht, zu mündigeren Konsumenten zu werden, die sich nicht mehr komplett verarschen lassen?

Das Internet hat tatsächlich geholfen – etwa durch unabhängige Webseiten, auf denen die Kunden ein Produkt objektiv bewerten und damit anderen Menschen helfen können, die vor einer ähnlichen Entscheidung stehen. Aber warum werden Versicherungsfirmen oder Handyanbieter nicht dazu gezwungen, uns in regelmäßigen E-Mails darüber in Kenntnis zu setzen, wie wir unsere Tarife optimieren könnten?Hier müssten Gesetzgeber ansetzen.

Noch mehr Zahlen – ich steige doch schon jetzt kaum durch meinen Handytarif durch!

Aber da diese Information digital vorliegen müsste, würden sofort unabhängige Internetseiten entstehen, die verschiedene Angebote miteinander vergleichen würden! Vergessen Sie nicht: All diese komplizierten Tarifdetails sind mit Absicht so gestaltet worden, dass wir sie nicht mehr verstehen.

Sie beschreiben auch Wege, durch die wir unsere menschlichen Schwächen nutzen können. Nichts tun und davon noch profitieren, das klingt spannend …

Das Programm »Save More Tomorrow«, das ich zusammen mit einem Kollegen entwickelt habe, hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Es hilft Menschen, mehr für ihre Altersvorsorge zu sparen. Der Trick: Wenn die Teilnehmer den Betrag festlegen, den sie jeden Monat sparen wollen, können sie eine Option ankreuzen, die den Betrag automatisch erhöht, wenn sie eine Gehaltserhöhung bekommen.

Würden die Leute das nicht auch selbst machen, wenn sie plötzlich mehr verdienen?

Das nimmt sich jeder vor – aber kaum einer macht es! Wir lassen die Dinge einfach gerne weiterlaufen, wie sie gerade sind. Aber erhöht sich der Sparbetrag automatisch, müssen wir auch gar nichts tun – wir verhalten uns automatisch sinnvoll.

Wenn Sie schon wissen, was gut für uns ist – weniger fettes Essen, Strom sparen, an die Rente denken – warum stupsen Sie uns in Ihrem Buch dann nur an, statt uns dem Glück kräftig entgegenzurempeln?

Ich will den Menschen nicht sagen, was sie tun und lassen sollen. Ich glaube auch nicht daran, dass Regierungen zu viele Verbote und Verfügungen erlassen sollten. Ich glaube an Wahlfreiheit. Das Buch soll vor allem zeigen, wie es möglich ist, Menschen dabei zu helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, ohne sie in ihrer Freiheit einzuschränken. Entscheidungen, die nicht Regierungsbeamte, sondern die Menschen selbst als besser empfinden, wohlgemerkt!

Sie und Ihr Koautor, der Jurist Cass R. Sunstein, arbeiten als informelle Berater des neuen US-Präsidenten Barack Obama – finden Sie Dinge aus Ihrem Buch in seiner Politik wieder?

Seine Kampagne hat den großartigen Begriff des »iPod Government« geprägt: benutzerfreundlich, einfach zu verstehen und mit durchdachten Voreinstellungen, die man bei Bedarf anpassen kann. Wir haben diesen Begriff nicht in unserem Buch verwendet, aber er trifft den Kern unserer Sache. Mein Mitautor Cass ist ein alter Freund von Obama, noch aus der Zeit, als beide in Chicago an der Uni arbeiteten. Ich selbst habe Obama nur ein paarmal getroffen, aber ich spreche regelmäßig mit seinen Wirtschaftsberatern. Viele unserer Ideen finden sich in Obamas Politik wieder, von der besseren Regulierung des Kreditwesens bis zur automatischen Registrierung in einer Rentenversicherung.

In Frankreich wurde gerade die Regelung für Organspender geändert: Nicht mehr die Spender müssen einen Organspendeausweis tragen, sondern diejenigen, die nicht spenden wollen, müssen dies klar kenntlich machen. Und die Quote der Organspender ist seither drastisch gestiegen!

Menschen sind eben bequem.

Aber ist es legitim, diese Trägheit auszunutzen, um die Zahl der Organspender zu erhöhen? Die grundsätzliche Haltung der Menschen hat sich ja nicht über Nacht geändert.

In einem solchen Fall würde ich das bevorzugen, was man »Pflichtwahl« nennt. Jeder, der den Führerschein macht, muss sich entscheiden: Will ich Organspender sein oder nicht? Das würde verhindern, dass sich jemand aus Faulheit für das eine oder das andere entscheidet. Und die Familie eines Organspenders könnte sich sicher sein, dass er diese Entscheidung bewusst getroffen hat – und nicht, weil er dachte »Ach, darum kümmere ich mich später …«

Dass die meisten Menschen immer noch denselben Klingelton haben, der bei ihrem Handy standardmäßig eingestellt war, ist ja nicht schlimm. Aber warum ist selbst bei einer so wichtigen Entscheidung wie der Organspende offensichtlich entscheidend, was jemand für uns »voreingestellt« hat?

Diese Voreinstellungen begegnen und ständig im Leben. Egal, ob wir ein Computerprogramm installieren oder im Restaurant die »Empfehlung des Tages« statt unseres Lieblingsgerichtes nehmen. Voreinstellungen nehmen uns Entscheidungen ab, wir können auf Autopilot schalten, statt nachdenken zu müssen. Oft geben uns Voreinstellungen auch das Gefühl: »Das ist die Wahl, die die meisten Leute getroffen haben – sie kann also auch für mich nicht so schlecht sein.« Stimmt nur leider nicht immer. Oft sind die Voreinstellungen auch nur das, was für eine Firma am günstigsten ist: beispielsweise die Einwilligung, ein Leben lang mit Werbung zugemüllt zu werden.

Wie helfen Ihre Erkenntnisse mir persönlich?

Sie können sich selbst jeden Tag viele kleine »Nudges« für ein besseres, gesünderes Leben geben. Wenn Sie abnehmen wollen, kaufen Sie kleinere Teller, kochen Sie kleinere Portionen und bewahren Sie nicht Unmengen von Süßigkeiten zu Hause auf. Wenn Sie mehr für Ihre Rente sparen wollen, sorgen Sie dafür, dass sich der Betrag, den Sie sparen, gelegentlich automatisch von selbst erhöht – ohne dass Sie etwas dafür tun müssen.

Kennt den Homer in uns: Richard Thaler

Richard Thaler, 1945 in New Jersey geboren, gilt als Vater der Verhaltensökonomik, die sich mit dem menschlichen Verhalten in wirtschaftlichen Situationen befasst. Neben dem Buch »Nudge«, das er zusammen mit dem Juristen Cass R. Sunstein verfasst hat, hat Thaler auch über die Entscheidungen der Kandidaten in der TV-Show »Deal or No Deal« sowie über die Logik der Spielereinkäufe der National Football League geforscht. Er unterrichtet an der Universität von Chicago.

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Interview: Christoph Koch
Erschienen in: NEON
Fotos: Verlag

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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