Stoffwechsel: Wie wird ein Unternehmen nachhaltig?

Written by on 11/08/2025 in Die Zeit with 0 Comments

Was bedeutet es für ein Unternehmen genau, nachhaltig zu sein? Besuch bei einer Firma, in der Vater und Tochter das zwischen Overalls und Arbeitshosen ausdiskutieren.

Schon klar, dass Kinder oft anders ticken als ihre Eltern. Aber es ist schon ungewöhnlich, dass sie einander deutlich widersprechen, wenn sie gemeinsam ein Unternehmen führen und ihnen ein Journalist zuhört. So wie an diesem Frühlingstag im unterfränkischen Alzenau. Zwischen Hosen und Schürzen für Köche, Overalls für Monteurinnen, Kitteln für Ärzte sitzen hier zwei Generationen der Firma Weitblick zusammen. 45 Millionen Euro Umsatz, 160 Beschäftigte. Weitblick verkauft Arbeitskleidung, die Textilien sind auf Kleiderstangen ausgestellt. 

Am Tisch sitzen: Claus Schmidt, 67 Jahre alt, der Enkel des Firmengründers, die dritte Generation. Er hat die Firma lange geleitet. Ihm gegenüber: Isabelle Ilori-King, 30 Jahre alt, die vierte Generation. Es geht um die Frage, wie ein traditionsreiches Unternehmen nachhaltig wird. Geht das über Nacht? Wer treibt den Wandel voran? Und verstehen alle das Gleiche darunter?

„Wir waren schon immer nachhaltig“, sagt der Vater. Die Tochter sieht das anders, und das macht sie im Gespräch auch sehr deutlich. Ja, man sei auch früher „vor der Zeit“ gewesen, sagt Isabelle Ilori-King. Aber erst seit einigen Jahren gehe man es „extrem professionell, systematisch und gezielt“ an. Nachhaltigkeit aus dem Bauch versus Nachhaltigkeit mit der Excel-Tabelle.

Damit ist man mittendrin in einer Diskussion, die viel aussagt darüber, wie verschieden der Begriff „nachhaltig“ verstanden wird und wie die Generation der Unternehmensnachfolger über ihn denkt. 76 Prozent der next gens gaben in einer Studie der Stiftung Familienunternehmen im Jahr 2023 an, Nachhaltigkeit sei für sie strategisch wichtig und stehe mehr im Fokus, als neue Geschäftsmodelle zu entwickeln oder internationale Märkte zu erschließen. 

Um zu verstehen, warum der Vater Claus Schmidt seine Firma Weitblick schon immer nachhaltig fand und seine Tochter die Fortschritte und die Systematisierung der letzten Jahre entscheidend findet, muss man einmal im Schnelldurchlauf fast 100 Jahre Firmengeschichte abspulen. Alles beginnt Ende der 1920er-Jahre, als ein Mann namens Gottfried Schmidt anfängt, aus seiner Frankfurter Wohnung heraus Berufs- und Zunftbekleidung zu verkaufen. 1931 eröffnet er ein Ladengeschäft: „Gottfr. Schmidt OHG“ lautet die Aufschrift auf dem Firmenschild. Die Bierkutscher, Zimmermänner und Ärzte kaufen ihre Arbeitskleidung schlicht bei „Kittel-Schmidt“. 

Die Kriegsjahre sind hart, aber im Boom der 1950er-Jahre ziehen die Verkäufe wieder an, und 1983 steigt Claus Schmidt ins Geschäft ein. Der Enkel lässt das Unternehmen beträchtlich wachsen, denn er setzt auf Geschäfte mit Dienstleistern. Firmen also, die dafür sorgen, dass für jede Supermarktverkäuferin und jede Pflegekraft zu Schichtbeginn ein frisch gewaschener Kittel bereitliegt. Das bringt Geld, denn anders als Handwerksbetriebe kaufen die Dienstleister gleich mehrere Garnituren pro Beschäftigtem.

Heute erzielt Weitblick 85 Prozent seines Umsatzes mit solchen Dienstleistern. Und die waschen und trocknen sehr heiß, kontrollieren jedes Teil genau, erzählt Schmidt. Allein deswegen seien die Textilien von Weitblick schon immer extrem auf Langlebigkeit optimiert worden, also nachhaltig gewesen. Schmidt sagt, man habe auch die Mitarbeitenden in der Produktion immer fair behandelt und „nie Gewebe aus Standorten bezogen, wo hinter den Fabriken die Farbe in den Acker rinnt“. Schon 1994 habe man eine „voll kompostierbare Ökokollektion“ angeboten, an der es aber kaum Interesse gab, sagt Schmidt, „sehr schade!“. 

Doch heute spielt Nachhaltigkeit eine größere Rolle, nicht nur als Synonym für Umweltschutz: 2013 stürzte die Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch ein, über 1.000 Menschen starben. „Das war ein einschneidendes und katastrophales Erlebnis für die gesamte Branche“, sagt Ilori-King. „Und es hat mir gezeigt, wie wichtig gute Arbeitsbedingungen und richtiges Hinschauen sind.“ Drei Jahre später werden Isabelle Ilori-King und Bruder Felix Schmidt Gesellschafter und steigen ins Unternehmen ein. 

Lohnt sich der Aufwand?

Im Besprechungsraum der Firma sieht man, dass Weitblick tatsächlich genauer hinsieht – und sich das von außen bestätigen lässt: Die Jacken und Schürzen und Hemden tragen bekannte Nachhaltigkeitssiegel wie Oeko-Tex, Grüner Knopf und Maxtex. Hergestellt werden die Kleidungsstücke auf dem Balkan, die verwendeten Stoffe in der EU. Dieses Jahr wird die letzte von sechs Fertigungsstätten nach dem OekoTex-SteP-Siegel zertifiziert, das die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, die Sicherheit und etwaige Umweltbelastungen bewertet.

Jan-Marten Krebs ist Gründer und Chef der Nachhaltigkeitsberatung Sustainable. „Auch für die jetzt langsam ausscheidende Generation von Unternehmerinnen und Unternehmern war Nachhaltigkeit bereits Thema“, sagt Krebs. So hätten Unternehmer auch früher schon auf Qualität geachtet oder Lieferanten gut behandelt, um sie zu halten. „Aber es ist typisch, dass ein Generationenwechsel zu einem ganzheitlicheren und methodischeren Ansatz führt.“ 

Als Claus Schmidt 2016 die Mehrheit der Anteile an Weitblick an seine Kinder übertrug, fing die Führungsriege der Firma an, über die Neuausrichtung des Unternehmens nachzudenken, das da noch nach dem Gründer benannt war. Der Fokus auf Umweltschutz und faire Arbeitsbedingungen sollte sich auch im Namen niederschlagen – da schien „Weitblick“ eine gute Wahl.

Heute erzeugt Weitblick seinen Strom an den beiden deutschen Standorten zum größten Teil durch Solaranlagen selbst. Zugekauft wird nur Ökostrom. Die Fahrzeugflotte wird auf Elektroantrieb umgestellt. An Endkunden versendet Weitblick klimaneutral und in nahezu plastikfreier Verpackung. Noch in Arbeit: eine transparente Lieferkette und eine detaillierte CO₂-Bilanz für die gesamte Wertschöpfungskette.

Lohnt sich der Aufwand? „Nachhaltigkeit ist oft ein Kriterium für die Auftragsvergabe, zumindest offiziell“, sagt Claus Schmidt. „Aber wenn der Preis dadurch auch nur um zwei oder drei Prozent steigt, ist man schnell aus dem Rennen, weil dann doch der Preis das wichtigste Kriterium ist.“ Der Berater Jan-Marten Krebs bestätigt das. Aus seiner Sicht könne es helfen, dann zumindest langfristige Abnahmegarantien zu vereinbaren, damit sich die Investitionen in den Klimaschutz besser planen lassen. 

Weitblick ist also ein typischer Fall: ein Familienunternehmen, das die viel beschworene „Enkelfähigkeit“ leben will. Bei dem dennoch ein Generationenwechsel nötig war, um das Ziel systematisch anzugehen. 

Da ist zum Beispiel das Lager, in dem vollautomatisiert die Ware in langen Regalkorridoren ein-, aus- und umgeladen wird. Die Lagersoftware lerne selbstständig, welche Produkte wie lange am Lager liegen, sagt Ilori-King. „Das spart auf Dauer natürlich Energie, weil die Software die Schnelldreher gleich vorne einsortiert und die seltener bestellten Artikel weiter hinten.“

Und als Weitblick sein neues Lager plante, mahnten Naturschützer, dass Zauneidechsen durch den Bau ihr Habitat verlieren würden. „Seitdem haben wir auf unserem Grundstück neben dem Logistik-Zentrum gewissermaßen ein geschütztes Eidechsen-Paradies errichtet“, erzählt Ilori-King. Mag sein, dass der Gründer Gottfried Schmidt einst hoffte, seine Urenkel würden sein Unternehmen einmal weiterführen. Dass er dabei auch schon an Zauneidechsen und an effiziente, sich selbst organisierende Regale gedacht hat? Unwahrscheinlich.

Text: Christoph Koch
Erschienen in: ZEIT für Unternehmer
Foto: Weitblick

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About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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