Die Vermessung meiner Welt

Bekenntnisse eines Self-Trackers

 

Umschlagtext

Selbsterkenntnis durch Zahlen – so lautet das Motto von „Quantified Self“, einer neuen Bewegung von Selbstvermessern. Immer mehr Menschen analysieren ihr Leben minutiös mit digitalen Hilfsmitteln und Smartphone-Apps. Doch was können wir aus Datenreihen und Balkendiagrammen wirklich über unser Selbst erfahren? Christoph Koch („Ich bin dann mal offline“) hat seine Gesundheit und seine Finanzen, seinen Schlaf und seine Arbeitsleistung getrackt. Und hat – entgegen seiner Erwartung und trotz Datenschutzbedenken – Geschmack daran gefunden. Ein spannender und kontroverser Beitrag zur Debatte rund um Big Data.

cover vermessung

 

Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Woche 1 – Willkommen in der Zahlensekte
Woche 2 – Erste Erkenntnisse
Woche 3 – Das technische Aufrüsten beginnt
Woche 4 – Treffen mit den Profis
Woche 5 – Quantified Self als Geschäftsmodell
Woche 6 – Die Laborratte wird müde
Woche 7 – Die Vermessung der Gesundheit
Woche 8 – Kritik an Quantified Self und Big Data
Fazit
Anhang – Verwendete Geräte und Apps, Literaturverzeichnis, etc.

 

Format: eBook

Preis: 1,99 Euro

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Leseprobe:

Einleitung

Ein Familienvater Mitte 40 schaut am Abend auf sein Plastikarmband. Ein rotes Signal signalisiert ihm Bewegungsmangel, also zieht er trotz Minusgraden seine Jacke an und geht noch eine Runde um den Block …

Ein Doktorand unterbricht seine Arbeit am Schreibtisch nach jeweils exakt 55 Minuten und trägt in einer Excel-Tabelle ein, wie produktiv er in der vergangenen knappen Stunde gewesen ist. Am Ende des Monats analysiert er, zu welchen Tageszeiten und an welchen Wochentagen er besonders konzentriert gearbeitet hat und ob sich seine regelmäßigen Fastentage positiv oder negativ auf seine Arbeit auswirken …

Eine junge Frau nimmt nach dem Aufwachen das Elektrodenstirnband ab, das sie die ganze Nacht getragen hat, und stoppt die Anwendung auf ihrem Smartphone, das von ihrem Nachttisch aus ihren Schlaf überwacht hat. Sie hat sich keinen Wecker gestellt, denn ein Algorithmus hat anhand der Stirnbandübertragung berechnet, wann sie sich in einer Leichtschlafphase befindet, und sie in genau diesem Moment geweckt …

Eine Architektin installiert in ihrem Auto ein kleines Gerät, das erfasst, wann und wo sie den Wagen bewegt. Da sie damit nachweisen kann, dass sie kaum nachts fährt und also ein statistisch niedrigeres Unfallrisiko hat, gewährt ihr ihre KFZ-Versicherung einen Rabatt …

Ein Geschäftsmann sammelt in einem Reagenzglas 2,5 Milliliter Speichel. Vier Wochen nachdem er dieses Reagenzglas nach Kalifornien geschickt hat, bekommt er für weniger als 100 Euro eine Auswertung von rund einer Million Genmarker seiner DNA. Damit kann er herausfinden, ob er eine statistisch erhöhte Wahrscheinlichkeit hat, an Alzheimer oder Prostatakrebs zu erkranken, ob er laktoseintolerant ist oder bestimmte Medikamente schlechter verträgt oder anders dosieren muss als der Durchschnittspatient …

Was in diesen kleinen Geschichten wie eine Zukunftsvision klingt, ist längst Realität geworden. Immer mehr Menschen vermessen Teile ihres Lebens mithilfe digitaler Hilfsmittel. Sei es, um mehr über sich herauszufinden, um bestimmte Aspekte ihres Daseins zu optimieren oder einfach nur aus Neugier oder Faszination an den neuen technischen Möglichkeiten.

Offiziell nennt sich dieses Phänomen „Self-Tracking“ oder „Quantified Self“. Manche nennen es auch „Lifelogging“, das Logbuch des eigenen Lebens. Doch egal, welchen Begriff man wählt: Ziel ist es, durch empirische Selbstvermessung, etwas Neues über sich selbst zu lernen. Die Bewegung ist noch vergleichsweise jung. Im Mai 2011 fand die erste weltweite Quantified-Self-Konferenz im kalifornischen Mountain View statt, veranstaltet von den US-Autoren Gary Wolf und Kevin Kelly. Die beiden arbeiten für das visionäre Technikmagazin „Wired“ und haben den Trend mit ihrer 2007 gestarteten Webseite quantifiedself.com begründet, deren Motto „Selbsterkenntnis durch Zahlen“ lautet.

Vier Gründe führen ihrer Meinung nach zu dem derzeitigen Boom an Selbstvermessern:

  1. Elektronische Sensoren werden immer besser, kleiner und billiger. Ein einfacher Bewegungssensor kostet beispielsweise nur noch ein paar Cent – und Technik, die früher ein gesamtes Schlaflabor gefüllt hätte, ist inzwischen so klein, dass sie in ein Stirnband passt.
  2. Immer mehr Menschen tragen ein Smartphone mit sich herum, das diese Sensoren auslesen kann oder gleich selbst besitzt. Auch Informationen, die nicht über Sensoren gemessen werden, sondern manuell erfasst werden müssen (zum Beispiel Nahrungsmittel oder die Frage „Wie fühle ich mich heute?“), lassen sich bequem ins Smartphone tippen.
  3. Blogging und soziale Netzwerke wie Facebook, Google+ oder Twitter haben uns in den letzten Jahren nach und nach daran gewöhnt, private Details mit der Welt zu teilen. Dieses „Sharing“ wird keineswegs von allen Self-Trackern genutzt (sehr viele erheben ihre Daten ausschließlich für sich selbst), aber gerade im Fitness- und Ernährungsbereich setzt manch einer auf die motivierende Wirkung des Freundeskreises, unter dessen Beobachtung er sich freiwillig begibt.
  4. Die Entwicklung der „Cloud“, des zentralisierten Datenspeichers in der Ferne, auf den sich alle diese erhobenen Daten aus verschiedenen Quellen (WLAN-Waage, Trackingarmband, Smartphone) hochladen lassen, um sie dort zusammenzuführen und zu analysieren.

Wenn in den Medien bislang über die Quantified-Self-Szene berichtet wurde, dann stets mit einem leicht überheblichen Kopfschütteln. Das sei doch alles narzisstisch, überflüssig, brandgefährlich – oder alles zusammen, so der regelmäßige Tenor. Self-Tracker seien fortschrittshörige Techniknerds, die ihren Alltag lieber auf Gramm, Zentimeter oder Hektopascal vermessen, statt sich wie anständige Bürger gefälligst auf ihr Bauchgefühl zu verlassen. Selbsterkenntnis durch Zahlen – das scheint vielen erst einmal suspekt zu sein. „Muss ich denn jetzt auch noch mein Privatleben optimieren?“, lautet eine oft gehörte Frage in Bezug auf Selbstvermessung. „Und was ist mit dem Datenschutz?“, lautet eine andere. „Wie viele Treppenstufen ich am Tag steige und wie ich mich ernähre, das geht doch niemanden etwas an!“

Nicht, dass solche Überlegungen pauschal unberechtigt wären, aber in der Regel erfolgt eine Ablehnung, ohne dass sich die Skeptiker wirklich mit dem Thema beschäftigt haben, geschweige denn, es einmal ausprobieren würden. Das soll mir nicht so gehen. Ich will nicht vorschnell urteilen über etwas, das ich vielleicht nur noch nicht verstehe, das mir fremd erscheint. So wie mir noch vor 20 Jahren das Mobiltelefon fremd erschien, ein Gerät „nur für Angeber und Wichtigtuer“ – von der Allgemeinheit und mir mit einem ähnlichen Kopfschütteln aufgenommen wie heute die Trackingarmbänder oder Apps der Quantified-Selfer. Nein, stattdessen werde ich versuchen, acht Wochen lang möglichst viele Bereiche meines Lebens zu tracken, zu quantifizieren. Ich hoffe dabei natürlich, etwas über mich selbst herauszufinden. Mit Sicherheit aber lerne ich etwas über die Faszination der Selbstvermessung, die dazu führt, dass immer mehr Menschen diesem Trend folgen.

Woche 1

10250 Schritte, 18 Treppenstockwerke, 24,2 % Körperfett, 42 gelesene Buchseiten, 7:38 Stunden im Bett, 21 mal aufgewacht, Nettoschlafzeit 7:07 Stunden – ein ganz normaler Donnerstag.

Seit vier Tagen bin ich nun Mitglied der Zahlensekte. Die Einsteigerdroge für Selbstvermesser heißt „Fitbit One“ und kostet rund 100 Euro. Ein glatter, schwarzer Sensor, etwa so groß wie mein kleiner Finger, den ich mir an die Hosentasche klemme. Er zählt, wie viele Schritte ich zurücklege, wie viele Kilometer ich laufe und wie viele Stockwerke ich jeden Tag hochsteige. Je nachdem, ob ich mich häufig bewege oder faul bin, wächst eine kleine Blume auf dem Display oder verkümmert.

Experten nennen dieses Prinzip „Gamification“. Spielerische Anreize sollen helfen, das Verhalten zu verändern. Bei mir klappt es sofort: Als ich am Ende des zweiten Tages merke, dass ich mein Soll von 10.000 Schritten noch nicht ganz erfüllt habe, steige ich auf dem Nachhauseweg eine Station früher aus der Trambahn und gehe den Rest zu Fuß. Albern, aber dennoch ein gutes Gefühl. Gesteigert wird es noch, als ich auf der Fitbit-Webseite sehe, dass ich einen befreundeten Kollegen in Hamburg, der ebenfalls einen Tracker besitzt, um mehr als 1000 Schritte geschlagen habe. Oh, süßes Hochgefühl des sportlichen Sieges!

Weitere Gamification-Tricks des Fitbit-Sensors: Wenn ich an einem Tag besonders viele Schritte oder Stockwerke schaffe, bekomme ich ein virtuelles Abzeichen. Ebenso wenn ich eine gewisse Gesamtmenge absolviert habe. Nach insgesamt 1000 Stockwerken werde ich zum Beispiel das Fallschirmspringer-Abzeichen bekommen – denn etwa aus dieser Höhe springen Fallschirmspringer ab. Bis ich so weit bin, muss ich den Tracker allerdings wohl noch ein paar Tage und ein paar Stufen bei mir tragen. Geschenkt gibt es auch beim Selbstvermessen nichts – aber die positive Unterstützung durch die Abzeichen, die lobenden Worte, die mich (natürlich automatisch generiert) per Mail erreichen, und die blühende Blume auf dem Display spornt mich an. Deshalb überrascht es mich auch nicht, als ich eine Studie lese, die besagt, dass Menschen, die einen Schrittzähler benutzen, sich 40 Prozent mehr bewegen als Menschen, die keinen benutzen. Nun bedeutet ein statistischer Zusammenhang noch nicht automatisch eine Kausalität (beispielsweise ahne ich, dass sich Menschen, die sich ohnehin viel bewegen, tendenziell häufiger einen Schrittzähler zulegen als Couch Potatos, denen alles egal ist). Und doch wird niemand bestreiten, dass wir einen Wert zuerst kennen und messen müssen, bevor wir ihn verändern wollen. Eine andere Studie kam übrigens zu einem ähnlichen Ergebnis: Sie bestätigt, dass Menschen, die sich regelmäßig auf die Waage stellen, signifikant häufiger ihr jeweiliges Ziel der Gewichtsveränderung erreichen als solche, die sich nicht wiegen und lediglich auf ihr – im wahrsten Sinne des Wortes –Bauchgefühl verlassen.

Nachts schiebe ich den Fitbit-Tracker in ein Stoffarmband, dort misst er meinen Schlaf. Das geschieht über dieselben Bewegungssensoren, die tagsüber meine Schritte erfassen – nur dass der Fitbit-Algorithmus erkennt, dass Bewegungen nachts einen unruhigen Schlaf bedeuten und nicht etwa den Weg zum Fallschirmspringer-Abzeichen. Der Tracker misst, wann ich tief und wann ich leicht schlafe, und erkennt sogar, wenn ich für ein paar Minuten ganz aufwache. Als ich einmal um drei Uhr nachts zur Toilette tapse und mir testweise die Uhrzeit notiere, sehe ich am nächsten Tag auf meiner Schlafkurve, dass der Sensor Aufwachen und Pinkelpause präzise erfasst hat. Das alles ist sehr interessant, und es macht auf eine schwer zu beschreibende Art Spaß, sich zugleich wie ein Wissenschaftler und wie eine Laborratte zu fühlen. Der tiefere Erkenntnisgewinn ist allerdings noch nicht so leicht zu benennen.

Doch ich tracke noch mehr: Die Geschwindigkeit und Distanz meiner Joggingrunden messe ich mit einem Sensor von Nike, der in meinem Laufschuh steckt. Meinen genauen Aufenthaltsort lasse ich permanent durch eine App namens „Moves“ auf dem Smartphone ermitteln und kartografieren – achte dabei aber sicherheitshalber darauf, dass andere mich nicht orten können. Zusätzlich nutze ich die App „Foursquare“, um an bestimmten Orten manuell „einzuchecken“. Hier können einige wenige ausgewählte Freunde sehen, wenn ich mich in ihrer Nähe befinde. Beide Apps führen Buch und liefern mir Statistiken, wie viele Kilometer ich pro Tag zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto zurückgelegt habe („Moves“) oder wie oft ich in der betreffenden Woche bereits an einer Imbissbude oder in einem Sportstudio eingecheckt habe („Foursquare“).

Mithilfe der App „ReadMore“ halte ich fest, wie viele Buchseiten ich jeden Abend vor dem Einschlafen gelesen habe, und die britischen Forscher hinter der App „Mappiness“ piepen mich zweimal am Tag zu zufälligen Zeiten an und fragen meine allgemeine Lebenszufriedenheit ab. Sie interessieren sich für verschiedene Parameter: Bin ich gerade drinnen oder draußen? Alleine oder unter Menschen? Was tue ich gerade? Ist es laut oder leise? Dass ich das alles inklusive meinem Glückslevel selbst einschätzen muss, mag ein wenig unwissenschaftlich klingen. Doch es ist tatsächlich so, dass die Psychologie nach jahrzehntelangem Vermessen von Hautwiderstand, Gesichtsmuskulatur, Herzschlag und anderen klar quantifizierbaren Größen erkannt hat, welcher der präziseste Weg ist, die Lebenszufriedenheit eines Menschen zu messen: ihn zu fragen. Natürlich nicht Wochen später und nicht nur einmal. Und so lange es keinen zuverlässigen Glückssensor gibt, den man am Handgelenk trägt, ist hier nach wie vor meine eigene subjektive Einschätzung gefragt. Eigentlich ganz beruhigend.

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