Der erste seiner Art: Josh Harris und das Leben in der Öffentlichkeit

Written by on 28/06/2011 in Neon with 0 Comments

Der Amerikaner Josh Harris war einmal ein Internetvisionär. Jetzt ist er ein paranoider Blender. Oder andersrum.

Als die Polizei am Neujahrsmorgen des Jahres 2000 den Bunker unter dem New Yorker Broadway stürmte, war Josh Harris bereits verschwunden. Was das Sondereinsatzkommando fand: rund hundert Menschen, viele von ihnen auf Drogen, die seit vier Wochen dort unten lebten, feierten, fickten und stritten. Dazu hunderte von Überwachungskameras und Monitore, eine Dusche mit transparenten Wänden sowie einen Schießstand mit Dutzenden Waffen. Nicht ganz die »Millenniums-Selbstmordsekte «, die die Polizei befürchtet hatte. Aber nahe genug dran.

»Viele Leute waren sich einig, dass das die beste Party war, die New York jemals gesehen hatte«, sagt der Organisator Josh Harris heute. »Abgesehen von Truman Capotes Schwarz-Weiß-Bällen vielleicht.« Rund zwei Millionen Dollar hatte Harris in das Projekt mit dem Namen »Quiet« gesteckt. Hatte den Bunker gemietet und so verkabeln lassen, dass jeder der freiwilligen Bewohner alle anderen permanent beobachten konnte. »Die Annahme, dass uns irgendwann ein staatlicher Big Brother überwacht, ist vollkommen falsch«, erklärt Harris den Hintergrund seines Experiments. »Wir selbst wollen überwacht werden, wollen uns zeigen – wir sehnen uns danach, so interessant zu sein, dass andere uns zusehen wollen.« Was heute, in den Zeiten von Facebook und Twitter, von Dschungelcamp und Containershows wenig spektakulär klingt, war damals – Mark Zuckerberg war fünfzehn Jahre alt – eine verwegene Theorie. Trotzdem waren die Stockbetten im Bunker sofort ausgebucht. Die Besatzung reichte von einem kleinen Jungen bis zu einer einflussreichen Museumsdirektorin. Kost und Logis, der Schießstand, überhaupt alles war kostenlos. Doch auch hier antizipierte Josh Harris das Facebook-Prinzip: »Der Tisch ist immer gedeckt, und es ist alles umsonst. Aber die Bilder, die wir von euch machen, eure Daten – die gehören uns!«

Harris war seiner Zeit nicht zum ersten Mal einen Schritt voraus. Seine Visionen hatten ihn reich gemacht: In den Anfangstagen des Internets zog er nach New York, verkaufte seinen alten Kombi für 900 Dollar und gründete mit diesem Startkapital »Jupiter Communications «. Die Firma war eine der ersten, die sich mit Trafficzahlen, Nutzerstatistiken, Internetwerbung und all dem beschäftigte, woraus heute eine milliardenschwere Industrie geworden ist. Als ihm das Datenschürfen zu langweilig wurde, gründete Harris »pseudo.com«, den wohl weltweit ersten Internetfernsehsender der Welt. Über 200 Mitarbeiter sendeten aus einem Lagerhaus in Soho Dutzende von Webcasts: HipHop-Sendungen, Sportsendungen, Dichterlesungen, Punksendungen. Heute würde man Videoblogging dazu sagen. Oder einfach Youtube. Das Problem: Breitbandanschlüsse gab es noch nicht, die Videos ruckelten und waren nicht viel größer als Briefmarken.

Trotzdem galt Pseudo als das nächste große Ding: Harris` persönlicher Marktwert betrug zu seinen besten Zeiten rund achtzig Millionen Dollar. Seine Partys, auf denen er einen Großteil seiner Mitarbeiter rekrutierte, waren legendär: »Leicht bekleidete Topmodels saßen auf dem Schoß von Nerds, die Ballerspiele zockten «, erinnert sich ein Zeitzeuge. Josh Harris selbst trat auf diesen Partys immer öfter als sein Alter Ego »Luvvy« in Erscheinung: ein grell geschminktes, geschlechtsloses Wesen mit gelber Badekappe, Federboa und schwarz gemalten Zähnen. Kein Clown, das war ihm wichtig. Das Management von Pseudo – auf ständiger Investorensuche – fand Luvvy aber so oder so nicht sonderlich lustig.

 

Aufgewachsen vor dem Fernseher

Josh Harris heißt eigentlich Joshua und war das jüngste von sieben Kindern. Er wuchs nach eigenen Angaben ohne elterliche Aufmerksamkeit oder Zuneigung auf. »Meine Erziehung war der Fernseher«, erzählt Harris heute und schwärmt von seiner Lieblingsserie »Gilligan`s Island«. »Meine Mutter sagte nur: Kümmert euch um euch selbst. Dass mein Vater beim Geheimdienst war und wir deshalb dauernd umziehen mussten, machte die Sache auch nicht einfacher.« Harris` Vater, offiziell internationaler Geschäftsmann, starb bei einer Herzoperation, als Josh fünfzehn Jahre alt war.

Heute würde man bei einem Kind, wie Josh Harris es war, vermutlich Aspergersyndrom diagnostizieren – jene abgeschwächte Form des Autismus, die emotionale Bindung zu den Mitmenschen und das Erkennen nonverbaler Signale erschwert, gelegentlich aber mit hohen Konzentrationsund Gedächtnisleistungen zusammentrifft. Josh Harris hat Dutzende kleiner Filmclips auf dem maroden Computer gespeichert, der in seinem Schlafzimmer steht und permanent läuft. Sein ganzes Leben lässt sich aus diesen Dateien zusammensetzen. Oder es zerfällt in Fragmente, zu pixeligen Minifilmen – ganz, wie man es sehen möchte. Es gibt nur eine einzige Frau, die in diesen Filmen als Joshs Geliebte vorkommt. Sie heißt Tanya Corrin und moderierte früher eine feministische Erotiksendung auf pseudo.com. Zahlreiche der kleinen Videoclips, aus denen Joshs Leben besteht, zeigen die beiden glücklich: spielerisch verliebt, beim Sex unter der Bettdecke, lachend beim Essen. Aber selbst davon distanziert er sich heute. »Ich habe sie für eine Rolle gecastet«, sagt er nüchtern. »Für die Rolle der perfekten Freundin. Es war ihr Pech, dass sie sich in mich verliebt hat.« War er selbst denn noch nie verliebt? Weder in sie noch in andere? »Nein.« Harris schenkt den Kaffee ein, den er vor über einer halben Stunde aufgesetzt und dann vergessen hat. »Ich hatte ja Luvvy. Sein Motto war immer: You gotta love the love!«

 

Wir waren mal Stars

Die kurze Zeit, die Tanya und Josh gemeinsam hatten, begann, kurz nachdem die Polizei den »Quiet«Bunker geräumt hatte. Harris mietete ein 370-Quadratmeter-Luxusloft für sich und Tanya und ließ es ebenfalls bis in den hintersten Winkel mit insgesamt 32 beweglichen Kameras ausstatten. Der große Unterschied zum Bunker: Diesmal konnten nicht nur diejenigen zuschauen, die selbst etwas von sich preisgaben. Sondern diesmal streamte Harris die Kamerabilder auf der Website weliveinpublic.com ins Internet. Das Liebespaar ließ sich auf der Toilette filmen, beim Küssen, beim Streiten, beim Abwasch und beim Arbeiten. Die Zuschauer konnten wiederum per Chat mit Josh und Tanya kommunizieren, ihnen sagen, wo die gesuchten Schlüssel lagen (anfangs), oder sie zum Spaß gegeneinander aufwiegeln (nicht viel später). »Anfangs haben wir uns gefühlt wie Stars«, sagt Harris heute. »Die Zuschauer haben die Aufzeichnungen einzelner Szenen unseres Lebens nachbestellt und gesammelt, damals noch auf Videokassette.« Doch irgendwann wurde der Druck zu groß. Der Druck auf die Dotcomblase, die mit lautem Knall platzte – und der Druck auf den Verstand von Josh Harris.

Bei jedem Telefonat mit seiner Bank waren seine Anteile an Pseudo und Jupiter ein paar Millionen weniger wert als vorher, Tanya zeigte ihm die kalte Schulter, und die gehässigen Zuschauer stifteten sie an, ihn nachts auf die Wohnzimmercouch zu verbannen. »Dazu das permanente Surren der Kameras, die sich auf einen richteten, sobald man das kleinste Geräusch von sich gab – es war die Hölle!« Parallel zu den Aktienkursen sanken auch die Zuschauerzahlen von weliveinpublic.com. »Am Anfang hatten tausende zugesehen, am Ende vielleicht noch ein Dutzend«, gibt Harris zu. »Irgendwann hatte ich einen Nervenzusammenbruch, und Tanya zog aus.« 81 Tage hatte das Experiment des öffentlichen Lebens gedauert.

Es folgten fünf Jahre, in denen die Filmclips, aus denen Joshs Leben besteht, ausschließlich auf einer kleinen Apfelfarm in Upstate New York spielten. Er hatte sein letztes Geld in diese Farm gesteckt und sich dorthin zurückgezogen, um eine Pause zu machen. Von der enttäuschten Liebe, die offiziell keine war. Von dem Wissen, achtzig Millionen Dollar gewonnen und wieder verloren zu haben. Von den Drogen, den Partys, den Businesstypen.

Vielleicht auch von Luvvy. Heute lädt Harris immer mal wieder einen der kleinen Filme aus seinem Leben auf seine Facebook-Seite hoch. Einer aus der Apfelfarmära zeigt ihn mit Schrotflinte in der Hand und dicker Zigarre im Mund. »Ich rauche die so gerne«, sagt Harris. »Aber einmal im Jahr muss ich drei Monate pausieren, damit mein Mund heilen kann.« Bam! Die wackeligen Bilder zeigen, wie Harris die Scheiben eines alten Holzschuppens wegballert. Bam! Auch hier sieht man weder Freude am Schabernack noch Zerstörungswut in Joshs Gesicht. Nur die in die Backentasche geschobene Zigarre. »Ständig vor der Linse der Kameras zu leben, hat mir meine Grenzen gezeigt «, sagt Harris. »Ich brauchte die Jahre auf der Farm, um mich selbst wiederzufinden.« Die Filmemacherin Ondi Timoner, die bereits im »Quiet«Bunker dabei gewesen war und seitdem immer wieder eine weitere Kamera auf Joshs Leben richtete, spürte ihn nach der Apfelfarmepisode an einem noch seltsameren Ort auf: 2008 war Harris nach Äthiopien geflohen, nicht vor der Steuerfahndung, versichert er, sondern vor FBI und CIA, die ihn seit dem 11. September beobachtet hätten. Seine Tage in der äthiopischen Dürre verbrachte Harris als Basketballtrainer für Schulkinder, kiffend, aber zufrieden. Vorher war er ein weiteres Mal seiner Zeit voraus gewesen, hatte mit einer Videowebsite namens »Operator 11« die Erfindung von »Chatroulette« um Jahre vorweggenommen – verkaufte das Projekt jedoch nach kurzer Zeit wieder, um seine sechsstelligen Kreditkartenschulden zu bezahlen.

Etwa ein Jahr hielt Harris es in Äthiopien aus, dann wollte er es noch einmal wissen: Nachdem Timoner ihn für die Premiere ihrer Filmdokumentation »We Live in Public« zum Sundance Festival eingeflogen hatte (das sie mit dem Film zum zweiten Mal gewann), ließ Harris das Rückflugticket verfallen und blieb in den USA. Sein Plan: eine neue Firma gründen, das Internetbusiness noch einmal aufmischen, die verlorenen Millionen zurückholen.

Das Hauptquartier, von dem aus er seine Operation plant, ist ein Loft im New Yorker Stadtteil Williamsburg. Die Klingel geht nicht, also steht Harris zur vereinbarten Zeit vor der Tür und blinzelt in die Sonne. »Es kann sein, dass nachher noch die Polizei kommt und die Wohnung nebenan räumt«, sagt er verschwörerisch. »Da haben sich Junkies eingenistet, mit einem von ihnen hätte ich mich letzte Nacht beinahe geprügelt.« Seine eigenen Räume im fünften Stock des ranzigen Gebäudes sind so gut wie leer. Die einzigen Einrichtungsstücke neben einem Bett, einem Schreibtisch und einer Küchenzeile sind ein Sandsack und eine Boxbirne, mit denen sich Harris fit hält. In einem aufgeschnittenen Karton wohnt seine Katze Greenberg, zwei dicke Bücher liegen herum – eine Lincoln-Biografie und ein Buch des Zukunftsforschers Ray Kurzweil.

 

Sechzig Dollar und ein Plan

»Ich habe noch genau sechzig Dollar«, sagt Harris. »Aber nächsten Monat mache ich mein zweites Vermögen. Ich weiß, was die Welt will. Ich weiß, was Hollywood braucht. Ich habe verstanden, wie die Maschine funktioniert.« Sein neues Projekt heißt »The Wired City« – die verkabelte Stadt. Wenn er davon erzählt, mit zappelnden Füßen und festem Blick, klingt es nach einer Mischung aus der »Truman Show«, seinen alten Kameraexperimenten und Rollenspielen wie »World of Warcraft«. Jeder, der will – und Harris ist sich sicher, dass alle wollen werden -, kann sein Zuhause mit Kameras und Monitoren ausstatten und sein Leben per Livestream übertragen lassen. Und natürlich die Streams der anderen ansehen: »Stellen Sie sich vor, wenn Sie beim Zähneputzen Madonna oder Johnny Depp zuschauen können, wie die sich dann ebenfalls die Zähne putzen!« Harris schwärmt vom absoluten Ende der Privatsphäre: Wer »spannend« ist und folglich viele Zuschauer versammelt, kann wie in einem Onlinerollenspiel aufsteigen und sich neue Privilegien verdienen. Das Geld soll durch Werbung hereinkommen, denn von der Zahnpasta bis zum Abendessen kann alles von Firmen gesponsert werden. »Wenn ich es erwachsenen Internet- und Fernsehmanagern erkläre, verstehen die es einfach nicht«, sagt Harris und trinkt jetzt zum ersten Mal von dem Kaffee, der inzwischen kalt geworden ist. »Aber wenn ich mit Fünfzehnjährigen spreche, wissen sie sofort, was ich meine.«

Für seine neue Vision will er nicht unbedingt Risikokapital, die klassische Finanzierung für Internet-Startups. Er möchte lieber gemeinsame Sache mit den großen Fernsehsendern machen, mit Hollywood. »Ich brauche etwa fünfzig Millionen Dollar – wenn sie mir in den USA keiner gibt, gehe ich eben nach China.« Oder ans legendäre Hightech-Forschungszentrum MIT in Cambridge, für dessen Direktorenposten er sich gerade beworben hat – bisher ohne Antwort. Harris hält Vorträge an Unis und im New Yorker Google-Hauptquartier, er trifft sich mit Investoren und Technikbloggern, doch so richtig hat scheinbar noch niemand angebissen. Davon lässt sich Harris nicht beirren.

Unter seiner Küchenspüle liegt ein Stapel Zigarrenschachteln seiner Lieblingsmarke Montecristo. »Leider alle leer«, sagt er mit seinem leicht spöttischen Standardlächeln. »Aber glauben Sie mir, ich bekomme immer irgendwo meine Zigarren her, wenn ich welche will.« Die Frage, ob Harris nach wie vor ein Visionär mit großen Ideen ist oder ein paranoider Blender voller halbgarer Konzepte, wird auch im Internet ausführlich diskutiert. »Unterschätzt ihn nicht«, kommentiert ein Nutzer den aktuellsten Videoschnipsel aus dem Leben des Josh Harris. In dem zehnminütigen Clipmonolog erklärt Harris seine Idee von »The Wired City«. »Wenn er sich anstrengt und sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann Harris alles erreichen.« Ein anderer User sieht das etwas skeptischer: »Ich würde dem Typen nicht mal einen Taco abkaufen.«

Heute befindet sich an der Ecke Broadway und Franklin Street, wo zur Jahrtausendwende Josh Harris` verzauberte Bunkerwelt lag, das Übliche: Handyläden und eine asiatische Suppenküche. Ein Taxi, das vorbeifährt, macht Werbung für einen Film über einen anderen Visionär, der ein paar Jahre später dran war als Josh Harris – also exakt im rechten Moment. Der Film heißt »The Social Network«.

Text & Fotos: Christoph Koch
Erschienen in: NEON

UPDATE 7. Juli 2011

Josh Harris sucht jetzt über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter nach Geldgebern für einen Webvideo-Piloten von „The Wired City“. 25.000 Dollar möchte er auf diesem Weg zusammenbekommen, danach sollen dann Fernsehnetworks oder Internetfirmen als Investoren überzeugt sein. Ich habe schon etwas in den Hut geworfen, einfach weil ich neugierig bin, wie die Sache weitergeht. Ab 30 Dollar gibt es sogar ein T-Shirt dazu, für 200 die sicherlich schickere Uniform.

 

 


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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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