Kettcar im Interview: „Mein Berlinhass ist deutlich milder geworden“

Written by on 17/05/2008 in zitty with 2 Comments

Album-Charts, Tagesthemen, ausverkaufte Tourneen – klammheimlich wurde aus Kettcar, die vor zwei Alben auf dem selbstgegründeten Indielabel Grand Hotel Van Cleef als Geheimtipp gehandelt wurden, eine der wichtigsten deutschen Bands. Jetzt kommen sie wieder – und benennen ihr Album nach der wichtigsten deutschen Insel. Kann das gutgehen? Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch über den Sylt-Reflex, seine Liebe zu Hamburg und den schönsten Ort Berlins, ach Quatsch: der Welt.

Ihr neues Album heißt „Sylt“ – soll jetzt nach den Indiekids aus dem Schanzenviertel die Jeunesse Dorée von Westerland erobert werden?
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass wir uns bei dem Namen „Sylt“ viel weniger gedacht haben, als da jetzt hineininterpretiert wird. Wir wollten nach „Du und wie viel von Deinen Freunden“ und „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ einen möglichst kurzen und verstörenden Titel haben. Und dann kam Reimer eben mit „Sylt“ um die Ecke.

Was ein sehr aufgeladener Name ist…
Das stimmt, es gibt niemanden, der nichts denkt, wenn er dieses Wort hört. Ich denke zum Beispiel an prolligen Reichtum. Sie denken vielleicht an eine schöne Insel. Ein anderer denkt an das Meer, das jedes Jahr ein Stück von der Insel wegfrisst, an ein modernes Atlantis. Aber das hat alles nichts mit dem Album zu tun.

Schade. Keine Songs darüber, wie man mit dem Porsche bei Gosch vorfährt.
Wir wollten Songs schreiben über neoliberale Zumutungen und Zustände, die gerade besonders viele Leute angehen. Uns war schnell klar, dass wir eine Platte machen wollten, die nicht einverstanden ist.

Zum Beispiel?
Dazu gehört meiner Meinung nach das Thema Zukunftsangst. Das wurde dann zu dem Song „Fake for real“ mit Zeilen wie „Und Türme, die fallen / Für Jungfrauen im Jenseits / Und dann das Gefühl / Von dem man jetzt längst weiß / Es wird nicht mehr gehen / Nicht im nächsten Jahrzehnt“. Ein anderes Thema, das mir schon lange am Herzen liegt, ist das Älterwerden. Darum geht es zum Beispiel in dem Song „Würde“.

In dem Lied zieht ein Erwachsener wieder bei seinen Eltern ein.
Ja, weil er den Anforderungen, die das Leben da draußen an ihn stellt, nicht gewachsen ist. Es gibt ja nachgewiesene Zusammenhänge zwischen unseren gegenwärtigen neoliberalen Zuständen und dem Burn-Out-Syndrom, das immer weiter um sich greift.

„Man ist immer so alt, wie man sich liebt“ ist eine schöne Zeile aus „Graceland“. Keiner will heute mehr richtig erwachsen werden. Ist das wirklich so schlimm?
Nein, ist es natürlich nicht. Erst mal fühlt sich dieses Jungbleiben ja für jeden gut und richtig an. Man ist den Anforderungen, die die heutige Zeit an uns stellt damit besser gewachsen. Man ist mobil, flexibel, einsatzfähig. Aber wenn man es zu weit treibt, nimmt es halt lächerliche Züge an.

Die „Zeit“ hat den Berliner Bezirk Prenzlauer Berg den Hort des „Bionade-Biedermeier“ getauft, aus dem Hamburger Schanzenviertel kennen Sie dieses Phänomen vermutlich auch.
Klar, und jeder war vermutlich schon mal auf so einer Party, wie ich sie in „Graceland“ beschreibe: „Distinktion und Einbauküche / Dahinten verteilen sie die Wachsmalstifte / Ich glaube, die Styler, die anders sein wollen / Wollen malen / Nach Zahlen.“

Über Ihr Label Grand Hotel Van Cleef kursierten schlechte Nachrichten: weniger Veröffentlichungen, finanzielle Schwierigkeiten. Wie ist die Situation im Moment?
Wir sind vorsichtig geworden, denn es wird tatsächlich jedes Jahr schwieriger, CDs zu verkaufen. Deshalb haben wir uns komplett neu ausgerichtet: Wir bringen nicht mehr allein Alben heraus, sondern wir betreiben zusätzlich einen Musikverlag und unser eigenes Booking – Do It Yourself auf allen Ebenen. Dadurch bleibt wiederum mehr Geld hängen. So können wir jungen Bands wie Escapado oder The Kilians eine Art Komplettpaket anbieten.

Ist das der Schritt in die Zukunft: das Label mit der Rundumversorgung?
Ich glaube ja. In drei bis fünf Jahren wird es keine kleinen Plattenfirmen mehr geben. Wir wollen uns nicht wie das Schaf zur Schlachtbank führen lassen, sondern haben uns neu orientiert und nach Lösungen gesucht. Aber ich will mich nicht beschweren: Als Band kannst du immer noch auf Tour gehen und Geld verdienen. Wer ein richtiges Problem hat, sind die Aufnahmestudios. In Hamburg beobachte ich derzeit ein richtiges Studiosterben. MOB, wo alle Tomte- und Kettcar-Alben aufgenommen wurden – pleite. Soundgarden, wo alle Tocotronic- alles Lado-Platten entstanden sind – pleite.

Sie haben ebenfalls einen Teil des Albums in Kreuzberg aufgenommen. Verraten Sie uns Ihren Berliner Lieblingsort!
Ich mochte diesen Burgerladen unter der Hochbahn am Schlesischen Tor: „Burgermeister“. Das ist für mich der schönste Ort Berlins. Ach, wenn ich ehrlich bin: der ganzen Welt.

Sie haben in Hamburg sieben ausverkaufte Konzerte hintereinander gespielt. Die Stadt bleibt Ihnen treu ergeben. Könnten Sie es sich erlauben, nach Berlin auszuwandern?
Grundsätzlich ist Berlin für Künstler wirklich attraktiv, weil man mit weniger Geld über die Runden kommt. Es klingt banal, aber mir ist schleierhaft, wie man als Künstler in München überlebt. Trotzdem kommt ein Umzug für uns nicht ernsthaft in Frage, wir sind viel zu verwurzelt in Hamburg – nur deshalb konnten wir ja auch diese sieben Konzerte in sieben verschiedenen Läden überhaupt machen. Wir kannten fast überall die Leute. Das war jeweils ein Anruf, abgeklatscht und fertig. Jetzt können wir die Hamburger doch nicht im Stich lassen.

Wo liegen für Sie die größten Unterschiede zwischen Berlin und Hamburg?
Berlin ist so scheißebillig! Mein Berlinhass ist in den letzten Jahren deutlich milder geworden. Späte Reue sozusagen. Was mir an Berlin gefällt: Ich finde die Stadt urbaner als Hamburg. Es gibt zwar auch in Hamburg sehr großstädtische Ecken, aber an die habe ich mich vielleicht zu sehr gewöhnt.

Auf dem letzten Album haben Sie einen Song für Ihren Freund Thees Uhlmann geschrieben, mit dem Sie das Label Grand Hotel Van Cleef in Hamburg gegründet haben. Was war das für ein Gefühl, als er Ihnen sagte: „Ich zieh nach Berlin“?
Er hat es der Liebe wegen gemacht – und da verstehe ich erst mal alles. Da hätte er auch nach Australien gehen können. Man sieht sich seltener als vorher, aber dafür ist es dann intensiver. Aber ich war natürlich wie alle anderen auch ein wenig enttäuscht, weil man einen guten Freund ein Stück weit verliert.

Haben Sie das Gefühl, dass es generell einen „Brain Drain“ von der Elbe an die Spree gibt, dass immer mehr Menschen der Versuchung Berlins erliegen?
Tomte ist praktisch geschlossen weggezogen. Mein Kumpel Felix, der als „Home of the Lame“ beim Grand Hotel veröffentlicht, zieht jetzt auch bald nach Berlin. Das ist schon eine Art Fluchtbewegung. Und das Schlimme ist: Die kommen nie wieder zurück. Die finden das alle geil.

Können Sie das als eingefleischter Pauli-Fan nachvollziehen, wenn Sie sich einmal die Berliner Fußballvereine ansehen?
Hertha BSC ist mir dermaßen unsympathisch, da fällt mir gar nichts mehr ein. Eisern Union finde ich ganz in Ordnung, aber da stört mich natürlich, dass mit Nico Patschinski ein alter St. Paulianer dort spielt. Außerdem gibt es nur Tennis Borussia – also unterm Strich glaube ich, Berlin ist für Fußballfans die Hölle.

Nach zwei Jahren Tourpause spielen Sie wieder in Berlin. Das Berliner Publikum in einem Wort?
Willig.

*
BONUSMATERIAL

Was wäre wenn … Kettcar nicht aus Hamburg kämen?

Die schönsten Textzeilen übertragen von der Elbe an die Spree

  • „Geld allein macht auch nicht glücklich / Aber irgendwie doch besser im Taxi zu weinen als im HVV-Bus, oder nicht?“ (aus „Im Taxi weinen)
  • „Streik allein macht auch nicht glücklich / Aber irgendwie doch besser in der BVG-Tram zu weinen, als zu Fuß im Regen, oder nicht?“
  • „Überall lauern Barbie und Ken / Du kriegst In/Out-Listen und Top Ten“ (aus „Nullsummenspiel“)
  • „Überall lauern Peaches und Ben / Du kriegst Pub-Crawl-Routen und Top Ten“
  • „Und verblutend am Elbstrand, die Getränke sind alle / Noch ein letztes Mal winken auf dem Weg aus der Leichenhalle“ (aus „Landungsbrücken raus“)
  • „Und verblutend in der Bar 25, die Pillen sind zu klein / Noch schnell die Schuhe suchen und dann weiter ins Berghain“
  • „So, hier nehmt das – Musik, Kunst und Kino / So, hier nehmt das – Sex und Casino“ (aus „Agnostik für Anfänger)
  • „So, hier nehmt das – Popkomm, Linienstraße, Berlinale / So, hier nehmt das – Kitkat Club, Pokalfinale“

Interview: Christoph Koch
Erschienen in: zitty
Fotos: Grand Hotel Van Cleef

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About the Author

About the Author: Christoph Koch ist Journalist (brand eins, GEO, NEON, Wired, GQ, SZ- und ZEIT-Magazin, Süddeutsche, etc.), Autor ("Ich bin dann mal offline" & "Digitale Balance" & "Was, wäre wenn ...?") sowie Moderator und Vortragsredner. Auf Twitter als @christophkoch unterwegs, bei Mastodon @christophkoch@masto.ai .

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